Bekanntschaften mit Deutschen
Doch in Deutschland zu leben und ausschließlich mit meinen Landsleuten zu verkehren, schien mir ungenügend. Ich wollte mit der hiesigen Bevölkerung bekannt werden und Kontakt aufnehmen, ihre Lebensart kennenlernen, ihre Ansichten näher erfahren. Mit diesem Ziel machte ich von Anfang an Besuche bei den ortsansässigen Pastoren und einigen Persönlichkeiten aus der Gesellschaft. Nach russischem Brauch dachte ich als Familienvater, diese Bekanntschaften auch auf die Familien auszudehnen. Mit diesem Ziel lud ich einige ausgewählte Personen zu mir zum Mittagessen ein. Sie nahmen alle meine Einladung willig an und aßen bei mir. Aber danach vergehen Wochen, ohne dass wir unsere Bekannten sehen. Schließlich erhielt ich von einem der Pastoren, die bei mir mit ihren Gattinnen gegessen hatten, eine Einladung für den folgenden Tag um sieben Uhr abends in einem bestimmten Gasthaus. So, denke ich mir, die haben wohl zusammengelegt, um sich ein Mittag- oder Abendessen im Restaurant zu erlauben. Aber weshalb werde nur ich eingeladen, meine Frau aber nicht? Wahrscheinlich geben sie ein Junggesellenessen. Am nächsten Tag gehe ich in das angegebene Restaurant und treffe dort schon einige meiner Bekannten an einem völlig ungedeckten Tisch. Vor jedem von ihnen steht eine Flasche Wein. Kaum habe ich mich gesetzt, da kommt schon der Kellner zu mir und fragt mich, was für einen Wein ich wünsche. In der Verwirrung zeigte ich auf die Flasche meines Nachbarn, und man brachte mir den gleichen. Inzwischen kommen meine übrigen Bekannten, und jeder von ihnen bestellt sich eine Flasche Wein. Ein Gespräch wird begonnen, das ziemlich lange anhält. Schließlich steht einer auf, zahlt für seine Flasche und geht. Danach tun der zweite und dritte das gleiche. Endlich bezahle auch ich meine Flasche und denke beim Heimgehen darüber nach, was das wohl bedeutet. Es bedeutete, dass die Deutschen mir eine praktische Lektion erteilen wollten, wie sie leben und wie man leben muss, wenn man mit ihnen Bekanntschaft pflegen will. Da es in Deutschland – besonders im Süden – kein solches Familienleben gibt, wie wir es kennen, dienen Gasthäuser als Treff- und Versammlungspunkte für Männer, und für ihre Frauen und Töchter – Cafés. Einem Russen fällt es nicht nur schwer, nein ihm ist es unmöglich, sich an ein solches Leben zu gewöhnen. Deshalb endete auch mein Versuch, mit Deutschen Bekanntschaft zu schließen, nicht nur in meinem Wiesbadener Leben, sondern genauso für den Rest meines langen Aufenthaltes in Deutschland, kläglich.
Dafür ist es umso erstaunlicher, wie die Deutschen, die selbst das russische Leben probiert haben, sich daran gewöhnen und es schätzen! In Wiesbaden hatte ich nur eine Familienbekanntschaft mit einem Deutschen. Es war ein deutscher Pastor, der zwanzig Jahre in Petersburg gedient und sich in Deutschland zur Ruhe gesetzt hatte. Er erzählte selbst, dass er nach dem Leben in Russland keine Bekanntschaft mit den Einheimischen mehr pflegen konnte. Ihm kam es schon fremd vor, seine Familie allein zu lassen und abends in ein Gasthaus zu gehen, um dort und nur dort seine Freunde und Bekannten zu treffen.
Da ich keine Nahrung im lebendigen Umgang mit den Deutschen fand, nahm ich mich mit umso größerem Eifer des Studiums ihres geistigen und religiösen Lebens aus Büchern, wissenschaftlichen und kirchlichen Zeitschriften an. Hier öffnete sich mir ein weites Feld für die Betrachtung des inneren Lebens dieses Volkes, das in einzelnen Persönlichkeiten vor meinen Augen kreiste. Wenn irgendwo vorzüglich abstrakte Theorien fest und unverbrüchlich mit dem tatsächlichen Leben verquickt werden, so ist dies in Deutschland. Ich hatte Gelegenheit, dies aus der Nähe zu beobachten, man kann sagen, ganz im Höhepunkt der geistigen Bewegung der Deutschen. Das waren die Jahre, die der Revolution von 1848 vorangingen. Das deutsche Volk, das sich damals noch unter dem strengen Regime der Metternichschen Politik befand, strebte nach Freiheit. Bisher war ihm nur die Freiheit der Wissenschaft in den Wänden der Universitäten überlassen. Selbst der schlaue Metternich hatte übersehen, dass sich diese freien Ideen allmählich in das Leben einschlichen und die ganze Masse des Volkes ergriffen, das plötzlich die Schwere der Bevormundung verspürte, unter der es die deutschen Regierungen immer noch hielten. Unter der Bürde der Zensur konnte der Gedanke daran nicht nach außen treten, und daher fand er sich einen Ausgang in der kirchlichen Bewegung. Niemals, scheint mir, wurden mit solcher Geschwindigkeit so viele neue Sekten in der Evangelischen Kirche geboren wie in jenen Jahren vor der Revolution. Es genügte, dass in Trier das unvergängliche Kleid des Herrn zur Verehrung ausgestellt wurde, um Ronge mit seinem Protest auf den Plan zu rufen, der in kurzer Zeit die Neukatholische Kirche gründete. Es reichte, in Preußen die Lutheraner zu beeinträchtigen, damit die so genannten freien Gemeinden erschienen, die sich zusammen mit Ronges Gemeinde beim ersten Donner der Revolution in politische Klubs verwandelten, in denen anstelle religiöser Gesänge revolutionäre Lieder gesungen wurden. Doch bis es dazu kam, verlief die religiös-philosophische Bewegung auf der Grundlage des kirchlichen Lebens, und dies zu verfolgen war außerordentlich interessant.
Doch all dies zu sehen, ohne die Möglichkeit zu haben, sich mit irgend jemandem darüber auszusprechen, war sehr schwer. Soll ich von all dem schreiben? Ich habe geschrieben, doch für mich. Damals war die Zeit nicht so, dass man das Geschriebene auch hätte drucken können. Bei uns fürchtete man, etwas zur Kenntnis zu geben, das Anstoß erregen konnte, selbst wenn es außerhalb der Grenzen Russlands geschah. Und was innerhalb Russlands geschah, davon wusste man nur bei der Geheimpolizei. Ich erinnere mich, wie ich Auszüge aus dem eben erschienenen Buch des Barons Haxthausen über Russland bezüglich unserer altgläubigen Sekten mit nach Russland brachte, und sich der Erzpriester Kotschetow, der an der Petersburger Akademie Kirchengeschichte lehrte, darüber freute wie über einen Schatz. Solche Geheimniskrämerei wurde damals in dieser Hinsicht bei uns betrieben, dass Lipandri mehr über die russischen Altgläubigen wusste, als ein Professor an einer geistlichen Hochschule. Deshalb kam es mir auch gar nicht in den Sinn, in irgendeiner russischen kirchlichen Zeitschrift etwas von meinen Beobachtungen über das kirchliche Leben in Deutschland zu veröffentlichen, wie das jetzt gemacht wird.
Zum Glück lud der damalige Direktor der geistlichen Lehrverwaltung, K.S. Serebrinowitsch durch ein Zirkular alle unsere Priester im Ausland dazu ein, mit ihren Arbeiten an der unter seiner Redaktion erscheinenden Zeitschrift des Erziehungsministeriums mitzuwirken. Ich nutzte dies und fing an, ihm meine Beobachtungen zu schreiben, von denen er nicht eine einzige veröffentlichte, mir aber doch Mut machte, meine – wie er sich ausdrückte – interessanten Mitteilungen fortzusetzen, indem er schrieb, dass die Mitglieder des Hl. Synods sie mit großer Aufmerksamkeit lesen. Dadurch beflügelt, begann ich ganze Traktate über die religöse Bewegung in Deutschland zu verfassen, ebenso Abrisse der dogmatischen Wissenschaft und Literatur wie auch Überblicke über die Zeitschriften und Periodika geistlichen und kirchlichen Inhalts nach Jahren. All dies ist irgendwo in den Archiven geblieben oder vielleicht auch ganz verloren gegangen. Das ist in jedem Fall mit meinem Abriß der philosophisch-dogmatischen Lehre in Deutschland in Verbindung mit den politischen Ereignissen des Jahres 1848, den ich für den verstorbenen Metropoliten Gregor auf seinen eigenen Wunsch verfaßte, geschehen. Ein Jahr nach seinem Tode erhielt ich aus dem Konsistorium eine Frage, ob bei mir ein Entwurf jenes Artikels verblieben sei, und ob ich ihn nicht wiederherstellen könne. Doch zu meinem Bedauern und zu meiner Schande muss ich bekennen, dass ich niemals Entwürfe für meine Arbeiten anfertigte. Das ist noch ein Rest akademischer Unachtsamkeit, als ich meine Gedanken auf Grund der mir vorliegenden Materialien sofort ins Reine schrieb.