Übertritt in die Orthodoxie der Prinzessin Cäcilie in Karlsruhe
Im Sommer 1856 sollte die Kaiserin Alexandra Feodorowna zur Kur nach Wiesbaden kommen, und wir sollten mit dem Klerus zum Gottesdienst dorthin reisen. Aus Anlass des Aufenthaltes der Kaiserin kamen so viele Menschen nach Wiesbaden, dass viele, die zur Kur gekommen waren, in den Kutschen übernachten und am folgenden Tag ein Quartier in der Umgebung Wiesbadens suchen mussten. Der Grund hierfür lag in der Gewohnheit der verstorbenen Kaiserin, mit einer riesigen Gefolgschaft zu reisen, so dass nicht selten zwei oder drei Gasthöfe sowohl für das Gefolge als auch für die erwarteten hochgestellten Besucher gemietet wurden, die zum Empfang der Kaiserin erschienen, und für die Russen, die um Erlaubnis baten, sich ihrer Hoheit vorzustellen. Dieses Mal erwartete man eine besonders interessante Visite: Aus Karlsruhe sollte die verwitwete Großherzogin mit ihren zwei Töchtern kommen, von denen eine später unsere Großfürstin wurde, die Gattin des Großfürsten Michail Nikolajewitsch. Ich erinnere mich an ihre Ankunft und unser aller Neugier, welche der beiden die Verlobte des Großfürsten wird. Am Tag nach ihrer Ankunft wurde bekannt, dass die Wahl auf die jüngere der beiden gefallen war, die Prinzessin Cäcilie.
Doch da die deutschen Prinzessinnen bei ihrer Heirat mit russischen Großfürsten ihre Glaubenszugehörigkeit ändern mussten, stand diese Frage auch hier im Vordergrund. Die Prinzessin Cäcilie war noch sehr jung – sie war gerade 16 Jahre – und sie war noch nicht konfirmiert. Trotzdem war der Übertritt in die Orthodoxie für sie wegen ihrer völligen Unkenntnis des orthodoxen Glaubens und der Vorurteile, die allen Protestanten hinsichtlich der Ostkirche eigen sind, furchtbar und schrecklich. Zum Glück war die Mutter der Prinzessin, die verwitwete Großherzogin Sophie, eine sehr vernünftige Frau und betrachtete diese Sache aus der Höhe ihres christlichen Verstandes. Am Tag nach der Verlobung des Großfürsten lud sie mich ein und erfuhr aus den ersten Worten, dass ich eben der Priester war mit dem ihr verstorbener Gatte, der Großherzog Leopold, 1850 bei der Taufe bei Beckendorfs in Baden-Baden Bekanntschaft geschlossen hatte, und von dem er ihr so viel erzählt und den er später nicht selten freundlich erwähnt hatte.
Dieser Umstand verband uns sofort, und die Großherzogin war froh, dass sie mich der Prinzessin sofort als einen ihnen bekannten Menschen vorstellen konnte. Auf diese Weise war der erste Eindruck von dem russischen Priester, diesem "Popen", wie man auf Deutsch sagt, günstig, und die junge Prinzessin lebte sichtlich auf. Sie war so liebenswürdig, dass ihre "Königliche Hoheit" trotz ihrer 16 Jahre eher einem bescheidenen Mädchen glich, als einer künftigen Großfürstin.
Am nächsten Tag – es war der 2./14. Juli – war für mich das erste Gespräch mit ihr in Gegenwart der Kaiserin anberaumt. Dabei gab ich einen allgemeinen Überblick über die orthodoxe Lehre und berührte die wesentlichen Besonderheiten in der Lehre unserer Kirche, wie z.B. die Anrufung der Heiligen, Verehrung der Ikonen u.ä. Meine Unterhaltung dauerte etwa eine Stunde. Sie wurde natürlich auf Deutsch geführt und stellte meinerseits eine Improvisation dar, die mir mit Gottes Hilfe vollkommen gelang, so dass die Kaiserin mir nach dem Fortgang der Prinzessin sagte:
"Glücklich sind die heutigen Prinzessinnen, dass sie so gut auf den Übertritt in die Orthodoxie vorbereitet werden. In unserer Zeit sagte man uns nur, dass dies aus politischen Überlegungen notwendig ist, und fragte nicht einmal, ob wir das verstehen, was wir bei der Aufnahme in die Orthodoxie aufnehmen sollten." Dann fügte ihre Hoheit hinzu: "So weiß ich bis heute nicht, ob ich nicht dadurch sündige, dass ich vieles in der Russischen Kirche nicht weiß und anderes nicht verstehe".
"Eure Hoheit! – antwortete ich ihr –, unsere Kirche ist ein reiches Haus, in dem es so viele kostbare und nützliche Dinge gibt wie in Ihrem Palast. Wenn aber Eure Hoheit sich jedoch nicht eines jeden dieser Dinge bedient, so bedeutet dies noch nicht, dass sie nutzlos sind und deshalb heraus geworfen werden müssen. So ist auch in der Kirche nicht jede Sache und jedes Ritual unabdingbar und notwendig für jeden, aber dennoch sind sie nicht minder nützlich und wohltuend für viele. Ich kann zum Beispiel wegen der Umstände niemals Reliquien verehren, doch hindert mich das nicht daran, ihre Heiligkeit und die Verehrung für sie für diejenigen, die sich ihnen mit Ehrfurcht nähern, als wohltuend zu bejahen. Dabei muss man immer die Worte des Apostels über das Fasten in Erinnerung behalten: "Die Speise stellt uns nicht vor Gott, doch wenn das Fleisch meinem Bruder ein Ärgernis gibt, so will ich lieber für immer kein Fleisch essen!"
Die Kaiserin war mir sehr dankbar für eine solche Beruhigung ihres aufgewühlten Gewissens. Doch nicht so beruhigend war der Eindruck, den mein Gespräch auf das junge Herz der Prinzessin ausgeübt hatte.
Am folgenden Tag erfuhr ich von der Großherzogin, dass ihr besonders die Verehrung der Heiligen unverständlich war und in erster Linie der Gottesmutter, was sie so an den Katholizismus erinnerte.
"Ich fand sie, – erzählte mir die Großherzogin –, auf den Knien betend und in Tränen. Das erschrak mich sehr, aber Cäcilie beruhigte mich, indem sie sagte: 'Jetzt fühle ich mich besser; ich habe gebetet und beschlossen, alles in meiner neuen Kirche anzunehmen!' ".
In Erinnerung an diesen Kampf wunderte ich mich später nicht selten, wenn die Prinzessin bei unserem Unterricht meine Erklärungen hörte und selbst sagte: "Wie konnten denn die Protestanten das ablehnen? Wie können sie die Gottesmutter nicht verehren? Warum bringen sie den Heiligen keine Verehrung dar!"
Da die Prinzessin Cäcilie noch zu jung war, wurde ihre Heirat mit dem Großfürsten um ein ganzes Jahr verschoben, und ich wurde damit beauftragt, ihr während dieser Zeit Religionsunterricht zu erteilen, während ihr gleichzeitig ein Lehrer für die russische Sprache zugeteilt wurde. Ich begann meinen Unterricht mit der Prinzessin im Herbst dieses Jahres und fuhr während des ganzen Winters bis zu ihrer Abreise nach Russland im Juni des folgenden Jahres allwöchentlich auf drei Tage nach Karlsruhe. Als ich diese für mich neue Beschäftigung aufnahm, wandte ich mich um Rat an V.B.Baschanovw und erhielt am 20. Juli 1856 von ihm folgendes Antwortschreiben:
"Ich gratuliere Ihnen, – schrieb er mir –, zu der wunderbaren Aufgabe, unsere zukünftige Großfürstin in den Dogmen der Orthodoxen Kirche zu unterweisen, und freue mich, wie ich dem Großfürsten Michail Nikolajewitsch geschrieben habe, dass dies Ihnen übertragen wurde. Ich weiß nicht, warum Ihr Brief an mich eine Woche später ankam als der des Großfürsten, obwohl sie wahrscheinlich beide gleichzeitig abgesandt wurden. Sie möchten die Lektionen haben, die ich der jetzigen Kaiserin gab; ich schicke gerne nächste Woche alles, was bei mir verblieb, wenn die Braut nicht mit der Kaiserin Anfang August hierher kommt, wie manche meinen. Diese Lektionen sind Milch anstelle von fester Speise, die für spätere Zeit aufgehoben wurde. Ich rate Ihnen gemäß Ihrem Wunsch, sich beim Erstellen der Lektionen und überhaupt beim Unterricht in Gedanken in die Situation der Prinzessin zu versetzen und und sich väterlich oder gar mütterlich darum zu bemühen, ihr den Übertritt aus dem mütterlichen Glauben in die Orthodoxe Kirche zu erleichtern. Eifer in der Sache und eifriges Gebet zu Gott führen zweifellos zu dem gewünschten Ziel, was ich Ihnen vom ganzen Herzen wünsche.
Das Jahr meines Unterrichts mit der Prinzessin Cäcilie stellt eine der schönsten Erinnerungen meiner pastoralen Tätigkeit dar. Neben der gewogenen und freundlichen Aufnahme in der Familie der verwitweten Großherzogin, wo ich jeden Tag im Familienkreis essen musste, gereichte mir der fast tägliche Umgang mit meiner erlauchten Schülerin zu großer Genugtuung und gleichzeitig Freude angesichts des anfänglichen Gehorsams und der späteren äußerst lebhaften, aufmerksamen Anteilnahme, mit der sie meinen Erklärungen folgte. Mein Unterricht erfolgte in deutscher Sprache, und nur die Lesung der sonntäglichen Evangelien und die Erklärung der Liturgie geschah auf Slawisch. Dabei gestand mir die Prinzessin, die zu gleicher Zeit mit dem Lehrer J.O.Majchrowskij die russische Sprache erlernte, dass ihr die kirchenslawische Sprache sowohl einfacher als auch verständlicher erschien als die russische Literatursprache. Meine Lektionen veröffentlichte ich später in deutscher Sprache in einem Büchlein unter dem Titel: "Die russische Orthodoxe Kirche. Ein Umriss ihrer Entstehung und ihres Lebens". Zu der selben Zeit wurde für die Prinzessin unter meiner Leitung eine Übersetzung der Geschichte der Russischen Kirche von Murawiew angefertigt und in Karlsruhe gedruckt.
Doch bevor ich meinen Unterricht mit der Prinzessin im Winter in Karlsruhe begann, musste ich noch nach Zürich reisen, wohin die Großfürstin Olga Nikolajewna, die ihre kaiserliche Mutter nach Russland begleitet hatte, übersiedelt war. Ihrer Hoheit war es genehm, an ihrem Geburtstag, dem 30. August, bei sich einen Gottesdienst zu halten, wofür wir mit dem gesamten Klerus dorthin fuhren; ich nahm auch meine Kinder mit. Hier lernte ich unseren Gesandten V.P. Titow kennen, der sich ebenfalls mit seinem Sohn und Erzieher dort aufhielt. Hier ereignete sich eine Anekdote hinsichtlich der bekannten Zerstreutheit des Gesandten, die ihm alle so bereitwillig verziehen, die sein gutes Herz und seine ehrliche Haltung kannten. Wir speisten an diesem Tag mit ihm bei den Hoheiten, und bei Tisch erfuhr Titow, dass sich in Zürich gerade ein gelehrter Württemberger aufhielt, den übrigens der Erbprinz, der Gatte der Großfürstin Olga Nikolajewna, nicht sehr schätzte, ihn aber, um Titow einen Gefallen zu tun, am gleichen Abend einzuladen versprach. Titow war sehr erfreut und dankbar für diese Ehre, und damit verabschiedeten wir uns von ihren Hoheiten, um einen Spaziergang auf den Jütliberg zu unternehmen, von wo sich ein wunderbarer Blick auf die Berge des Berner Oberlandes eröffnet. Wir versammelten die Kinder und machten uns in großer Gesellschaft, teils auf Eseln, teils zu Fuß auf den Weg zu diesem Berg. Der Blick von dort war wirklich bezaubernd. Der Wirt des dort befindlichen Hotel-Restaurants nannte uns alle sichtbaren Berggipfel bei ihren Namen und fügte hinzu, dass man das alles natürlich bei Sonnenaufgang sehen müsse, wofür viele Touristen bei ihm übernachten, um bei Sonnenaufgang aufzustehen und diesen Anblick zu bewundern. Das reichte dem wissbegierigen Titow, um sich zu entschließen, die Nacht hier zu verbringen. So schickten wir unsere Kinder mit den Erziehern in die Stadt und blieben selbst auf dem Berggipfel. Am Abend erinnerte ich mich an die Einladung Titows zu dem Abend mit dem berühmten Deutschen, doch es war schon zu spät. Wir verbrachten ihn nach Titows Worten zugunsten der aufgehenden Sonne und kehrten am nächsten Tag in aller Ruhe in unser Hotel zurück, wo wir auf der Treppe von Angesicht zu Angesicht die Großfürstin Olga Nikolajewna trafen, welche uns halb scherzend und halb ernst mit den Worten begegnete: "Gut, und gestern Abend luden wir für Sie Ihren interessanten Deutschen ein!". Titow rechtfertigte sich, wie er konnte und erhielt zur Strafe die Einladung, sofort die Großfürstin zu Fuß durch die Stadt zu begleiten. Titow eilte nach oben, um sich umzuziehen, während ich mit der Großfürstin in den kleinen Garten des Hotels ging, wo wir in Erwartung Titows auf und ab gingen. Es vergingen Minuten, ohne dass der Gesandte kam. Schließlich ging ich nach oben und klopfte an seine Tür.
Keine Antwort. Ich frage das Zimmermädchen, ob er vielleicht irgendwohin gegangen ist. Man antwortete: "Er hat eben heißes Wasser verlangt und sich in seinem Zimmer eingeschlossen". Es stellte sich heraus, dass er auch hier die Einladung der Großfürstin vergessen hatte und sich in aller Ruhe mit seiner Morgentoilette beschäftigte.
Doch diese Aufrichtigkeit hinsichtlich der Kleinigkeiten des Lebens, verbunden mit ernster Aufmerksamkeit gegenüber den prinzipiellen und wichtigen Aufgaben, ließ seine Persönlichkeit, die voll von herzlicher Liebe zu allem Guten, Wahrhaften und Schönen war, umso anziehender erscheinen. Daher ist es verständlich, dass die Großfürstin Olga Nikolajewna, als die Kaiserin Maria Alexandrowna einen Erzieher für den Thronfolger, den Großfürsten Nikolaj Alexandrowitsch suchte, ihre Aufmerksamkeit auf V.P. Titow lenkte. Viele hielten diese Wahl für seltsam, besonders deshalb weil der eigene Sohn Titows als ungenügend erzogen galt. Doch das meinten nur diejenigen, die das Familienleben der Titows nicht aus der Nähe kannten, in dem seine eigene Persönlichkeit in der häuslichen Atmosphäre stark herausragte. Allerdings zeigte sich in der Folge, dass dieser hohen Berufung kein voller Erfolg beschieden war, da keine zwei Jahre vergingen, bevor Titow seinen Posten bei dem Thronfolger einem anderen überlassen musste.