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Gemeindeleben in Baden-Baden

Zum Frühjahr 1858 stand mir wegen der Abreise der Großfürstin Olga Nikolajewna nach Russland für den ganzen Sommer noch größere Einsamkeit bevor. Alle in Stuttgart ansässigen Russen fuhren in die Kurorte. Die russische Gesandtschaft bestand damals aus den nicht orthodoxen Deutschen Graf Benckendorf, Stoffregen, Baron Meyendorff. Zum Glück entstand in Baden-Baden der gute Gedanke, uns mit der Kirche und dem gesamten Klerus für die Dauer der Abwesenheit der Großfürstin aus Stuttgart zur Durchführung der Gottesdienste dort einzuladen. Diesen Gedanken nahm ich wie himmlisches Manna auf, da ich in seiner Verwirklichung reiche Befriedigung des mich quälenden Tatendranges erahnte; und deshalb unternahm ich alles in meinen Kräften Stehende, um diesen Plan zu verwirklichen. Da wir eine transportable Kirche besaßen, die früher in der Gesandtschaft benutzt und jetzt nicht gebraucht wurde, nachdem die Großfürstin eine neue Kirche mit allem liturgischem Zubehör mitgebracht hatte, fiel es uns leicht, unsere Kirche nach Baden-Baden zu bringen und sie in einem dafür angemieteten Raum aufzustellen. Nachdem wir also mit dem gesamten Klerus und sogar mit den Familien nach Baden-Baden gezogen waren, eröffneten wir dort die Gottesdienste am 1. Juli mit einer feierlichen Liturgie. Meine Erwartungen hinsichtlich einer regelrechten Gemeindetätigkeit gingen vollkommen in Erfüllung. Neben fast täglichen Gottesdiensten standen Zusammenkünfte mit nahe stehenden Menschen und vielseitige geistliche Aufgaben – all das war neu für mich, und ich fand darin Nahrung für die Entwicklung der pastoralen Tätigkeit in mir. Damals waren in Baden-Baden viele Russen, und bei dem damals üblichen Glücksspiel gab es einen dauernden Wechsel von Ankommenden und Abreisenden, so dass unsere Kirche immer mit Gläubigen gefüllt war. Wir richteten auch eine Geldsammlung zum Unterhalt der Kirche und ein Sparbuch ein, mit welchem der Psalmenleser sich zur Unterschrift an jeden Ankommenden wandte. Er praktizierte, wie sich in der Folge zeigte, diese Sammlung auf die, nach seiner Meinung, erfolgreichste Weise, indem er die Spender beim Roulette ansprach, besonders wenn er bemerkte, dass der Spieler am Gewinnen war. Einmal gelangte er auf diese Weise sogar an einen österreichischen Offizier, dessen slawischer Familienname ihn verleitet hatte, und hielt ihn für einen Russen, der durch seinen Gewinn von einigen Tausend Gulden eben die Bank gesprengt hatte. Dieser gab aus Freude und ohne genau zu wissen, zu welchem Zweck ihm die Spendenliste vorgelegt wurde, eine beträchtliche Summe für die Sammlung zugunsten unserer Kirche. Mit solchen rechten und unrechten Mitteln wurde in Baden-Baden im Laufe eines Sommers eine so beträchtliche Summe eingesammelt, dass nicht nur alle Ausgaben zum Unterhalt der Kirche und des Klerus gedeckt wurden, sondern sogar das Anfangskapital für die Errichtung einer ständigen Kirche angelegt wurde. Dafür wurde ein Komitee geschaffen, an dessen Spitze seltsamerweise zwei nicht orthodoxe Personen standen: die Fürstin Gagarina, geb. Pototzkaja, eine Katholikin, und Baron Mühlens, der mit einer Pochwisnjowa verheiratet war, ein Protestant. Doch der Eifer dieser Personen, die durch ihre verwandtschaftlichen Beziehungen in einer orthodoxen Sphäre lebten, wurde bald mit vollkommenem Erfolg gekrönt. Zunächst errichteten sie eine sehr bescheidene Hauskirche in einem angemieteten Gebäude. Zu Gottesdiensten luden sie an Werktagen den Priester aus Karlsruhe ein, und dann erbauten sie eine kleine Kirche, in der vorläufig der gleiche Karlsruher Priester die Gottesdienste durchführte, wenn er in seiner Kirche frei war. Doch bereits jetzt (1887) ist das durch Spenden angesammelte Kapital auf eine solche Summe gewachsen (ca. 100.000 Mark), dass die Kirche bald ihren eigenen Klerus erhalten kann. So können wir mit Genugtuung sagen, dass unsere zeitweiligen Gottesdienste in Baden-Baden 1858 die Grundlage zur Einrichtung einer ständigen Kirche in dieser Stadt legten, in der sich so viele Russen im Sommer einfinden und wo sich gar einige unserer Landsleute Häuser kauften und sich ansiedelten.