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Hiermit bringen wir die Veröffentlichung von Auszügen aus den Memoiren des Erzpriesters I.I. Bazarow, des ersten Geistlichen an der Kirche der Heiligen Elisabeth in Wiesbaden, die im Boten der Orthodoxen Diözese im Laufe des Jahres 1983 erschienen. Wir halten die Erinnerungen dieses Priesters aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts für Angehörige unserer Diözese auch in unseren Tagen für interessant, da sich viele der Besonderheiten und Probleme des kirchlichen Lebens jener Zeit in der einen oder anderen Weise auch in unserem Leben widerspiegeln. Der Text, der hier in Übersetzung vorgelegt wird, erschien in der historischen Zeitschrift Russkaja Starina (Russisches Altertum) 1901. Der Erzpriester Iwan Iwanowitsch Bazarow schrieb seine "Erinnerungen" auf Wunsch der Königin von Württemberg Olga Nikolajewna, deren geistlicher Vater er über 40 Jahre lang war. 

 


Ernennung zum Geistlichen in Wiesbaden bei der Großfürstin Elisabeth Michailowna

Im Jahr 1843 wurde ich nach Abschluss der St. Petersburger Geistlichen Akademie als Lehrkraft der russischen Literatur am Petersburger Geistlichen Seminar eingesetzt. Aber bei der ersten Vorlesung überreichte man mir einen Brief des Protopresbyters Bazanow, mit dem er mich einlud, am selben Tag bei ihm zu erscheinen. Hier wurde mir der völlig unerwartete Vorschlag gemacht, als Geistlicher nach Wiesbaden zu der Großfürstin Elisabeth Michailowna zu gehen, die den Herzog von Nassau geheiratet hatte. Seltsam! Nach Beendigung der Akademie, wenn die Studenten darüber nachdenken, wohin sie das Schicksal führen wird, hörte ich wie einer meiner Kollegen von einem Platz in Wiesbaden sprach. Ich achtete damals so wenig darauf, da es mir ungewöhnlich erschien, wie man von einem solchen Platz in einer so unbekannten Stadt träumen konnte, deren Namen wir nicht einmal im Geographieunterricht gehört hatten. Doch Gottes Wege sind unerfindlich, und mir war es beschieden, meinen langen Dienst im Ausland eben in der mir bisher unbekannten Stadt zu beginnen.

Im Leben eines jungen Kandidaten für das Priesteramt spielt die Eheschließung vor der Weihe keine unbedeutende, wenn nicht die wichtigste Rolle. Und wie häufig kann man eine solche Situation antreffen, in der ein junger Mann, den unerwartet die Kandidatur für eine Pfarrstelle ereilt, genötigt ist, in der Stadt herumzulaufen um Bräute zu suchen! Natürlich findet er sie immer, da in den Familien von Geistlichen kein Mangel an Töchtern herrscht, welche ihrerseits auch unerwartet Bräute werden. Ich befand mich, Gott sei Dank, nicht in einer solchen Lage. Ich hatte schon eine Braut im Auge, aber sie war noch zu jung, um an eine Heirat zu denken. Ich war froh und glücklich, dass ich eine Stelle in Petersburg gefunden hatte, wo ich hoffte meinen Dienst zu tun, und mich nach vier Jahren des Eingeschlossenseins in den Wänden der Akademie umzuschauen.

Aber nun erscheint plötzlich und unerwartet der Vorschlag, eine für einen jungen Menschen sehr ehrenvolle Stellung anzunehmen, eine Stelle als geistlicher Vater eines Mitglieds des Zarenhauses, und dabei ein solcher Vorschlag, den man ohne wichtigen Grund nicht zurückweisen konnte. V.V. Bazanow sagte mir: “Die Großfürstin Helena Pawlowna wünscht für ihre Tochter einen Priester aus den jungen Kandidaten der Theologie, da sie meint, dass sich ein junger Priester schneller an das Leben im Ausland gewöhnt. Ihre Hoheit übertrug mir die Auswahl des passenden Kandidaten. Ich kenne Sie persönlich, und habe Sie deshalb vorgeschlagen.” Was konnte darauf ein armer, junger Kandidat für das geistliche Amt antworten? Sein erster Gedanke war dabei: “Aber ich muss doch heiraten!” Und tatsächlich war dies meine erste Antwort auf den Vorschlag Bazanows. Dazu sagte er mir: “Die Großfürstin hat auch daran gedacht und schlägt eine der Zöglinge ihres Instituts vor (welche später als Kammerfrau in die Dienste der Großfürstin Elisabeth Michailowna trat). “Im Übrigen ist dieser Vorschlag nicht zwingend”.

Darauf antwortete ich, dass ich eine Braut im Auge hätte, und wenn ihre Eltern zustimmten, sie ins Ausland zu entlassen, so würde ich die mir angetragene Stelle annehmen, im gegenteiligen Fall würde ich lieber absagen. Zu dieser lebenswichtigen Frage wurde mir eine Frist von 24 Stunden gegeben. Am nächsten Tag sollte ich um diese Zeit meine Antwort geben: Ja oder nein.

Indessen wusste meine so genannte Braut überhaupt nichts von meinen Absichten. Wenn sie mir auch gefiel, so dachte ich doch, mich während meines Dienstes in Petersburg zunächst mit ihr bekannt zu machen und erst im Laufe der Zeit, wenn ich mich von ihrer Zuneigung zu mir überzeugt haben würde, ihr einen Antrag zu machen. Und nun befand ich mich plötzlich beinahe in der Situation eines jungen Kandidaten für das Priesteramt, der sich eine Braut für morgen sucht! Als erstes machte ich mich auf den Weg zu meinen Freunden, den Brüdern meiner Braut, um ihnen von der Prüfung zu berichten, die mich ereilt hatte, und in der ich so plötzlich das Los meines ganzen Lebens entscheiden musste. Solange wir von der Stelle in Wiesbaden sprachen, rieten sie mir alle einstimmig, diese ohne Nachzudenken anzunehmen. Aber als die Sprache auf die Braut kam und ich ihnen erklärte, dass ich um die Hand ihrer Schwester anhalten würde, wurden sie alle still. Nur einer bemühte sich, in dieser Frage die Gedanken der Eltern und auch die Gedanken der Braut selbst zu erfragen. Da es schon spät war, versprachen sie mir, die Antwort am nächsten Tag – vor Ablauf der 24-stündigen Frist – zu geben.

Bis heute erinnere ich mich an die Stunden der Erwartung, in deren Verlauf mein Schicksal entschieden wurde. Was würde aus mir werden, wenn ich von der Familie, von der ich meine Braut zu finden hoffte, eine Absage erhielte, und die Stelle in Wiesbaden ablehnte! Natürlich würde ich in Petersburg bleiben, würde in die Welt eintreten mit dem Enthusiasmus eines jungen Menschen, der aus der in der damaligen Zeit strengen Verwahrung in der Akademie entkommen war, und wer weiß, ob ich nicht nach dem Beispiel zweier meiner Kameraden in den weltlichen Dienst treten würde, zu dem es mich mehr zog als zum geistlichen? Einer dieser Kameraden, mein großer Freund, trat seinen Dienst im Kriegsministerium an, wo man diesem Magister der Theologie zum Anfang die Angelegenheit der Umgestaltung der Baschkirischen Truppen anvertraute. Natürlich erschien ihm das als ein dunkler und undurchdringlicher Wald, infolgedessen er den Dienst wechselte und ins Schifffahrtsministerium gelangte. Hier wurde er Abteilungsleiter und konnte nach seinen Worten nicht einen Klipper von einer Fregatte unterscheiden, diente sich jedoch in diesem Ministerium bis zum Geheimrat hoch. Vielleicht hätte auch ich meine theologischen Kenntnisse zur Uniformierung des Baschkirenheeres oder zur Ausrüstung von Klippern und Fregatten benutzen müssen. Gott rettete mich vor einer solchen Willkür in meinem Leben und führte mich auf den Weg, auf dem ich Ihm von größerem Nutzen sowohl für das Wohl des Nächsten als auch für mein eigenes war.

Wenn ich jetzt am Ende meines Lebens zurückblicke, so erkenne ich die Wege der Vorsehung deutlich nicht nur in der Gestaltung meiner dienstlichen Tätigkeit, sondern auch in der Ausrichtung meines inneren Lebens. In jungen Jahren (ich war damals 24 Jahre alt) fühlte ich keinerlei Berufung zum geistlichen Stand und hatte keinerlei Vorstellung von der Bedeutung des Priesteramtes. Vielmehr schwebte mir damals ein Leben mit allen Vorteilen der Freiheit vor, und es war notwendig, mir einen solchen Köder vorzuwerfen, wie das mich damals beseelende Gefühl zu meiner Braut, um mich in einem Netz zu fangen, aus dem es für mein ganzes Leben keinen Ausgang mehr gab; diesen Köder warf die gütige Vorsehung, und dieses Netz wurde für mich zum Wohl meines Lebens, für das ich die Rechte des Herrn preisen muss.

 

Einige Stunden vor Ablauf der mir gesetzten Frist erscheint bei mir mein zukünftiger Schwager und Brautwerber mit den Worten: “Fahren Sie zu Bazanow und erklären Sie Ihr Einverständnis zur Annahme der Stelle. Alles ist nach Ihrem Willen eingerichtet!“. So war mein Schicksal beschlossen! Ich heirate, werde Priester und fahre ins Ausland!

 

Die Hochzeit der Großfürstin fand Mitte Januar 1844 statt, und im Februar ging sie schon mit ihrem Gemahl ins Ausland. Meine Heirat fand erst Ende Januar statt und die Priesterweihe im April. Aus irgendeinem Grund beeilte man sich nicht sonderlich, mich mit dem Klerus und den Sängern zu unserem Dienstplatz zu schicken. Im Außenministerium, von wo wir eigentlich zu unserer Mission nach Frankfurt geschickt werden sollten, war alles für unsere Abreise vorbereitet. Hier wurde auch beschlossen, dass die zur Mission gehörende Kirche nach Wiesbaden abkommandiert werden sollte. Deshalb meldete ich mich im Juni beim Sekretär der Großfürstin Helena Pawlowna mit der Frage, ob wir endlich die Reise antreten konnten, worauf er mir erwiderte, dass es natürlich Zeit sei zu reisen. Daraufhin nahm ich für mich und meine Frau sowie zwei Psalmisten Plätze auf einem der Postschiffe, die damals mehrmals wöchentlich zwischen Petersburg und Stettin verkehrten und fuhr nach Pawlowsk, wo ich mich von ihren Hoheiten, dem Großfürsten Michail Pawlowitsch und der Großfürstin Helena Pawlowna verabschiedete. Doch wie groß war mein Erstaunen, als die Großfürstin sich über unseren Entschluss, auf dem Postschiff zu fahren, erzürnte. Vergebens berief ich mich darauf, dass der Sekretär ihrer Hoheit mich bevollmächtigt hatte, Karten für das Schiff zu nehmen, und beteuert hatte, dass die Großfürstin nichts dagegen einzuwenden hätte.

 

“Ja, ich habe ihn dieser Tage überhaupt nicht gesehen!”, war die Antwort ihrer Hoheit. Da jedoch nichts mehr zu ändern war, entließ man mich gnädig, und richtete mir noch Verschiedenes für die junge Großfürstin aus. Dort erfuhr ich den Grund für den Zorn der Großfürstin. Mit der Aussteuer der Großfürstin Elisabeth Michailowna fuhr eine Fregatte nach Holland, von wo diese Dinge über den Rhein nach Biebrich gebracht werden sollten. Auf dieser Fregatte sollte sowohl die Kirche, als auch der Klerus reisen. Und tatsächlich wurden drei der Sänger auf diese Fregatte gesetzt und hatten in der Nordsee einen schweren Sturm zu überstehen. Wir dagegen hatten eine gute Überfahrt nach Stettin und kamen natürlich viel früher an unserem Bestimmungsort an.

 


Deutschland: erste Eindrücke

Die erste deutsche Stadt, die wir sahen, war Berlin. Sie übte jedoch keinerlei Eindruck auf uns aus, besonders nach Petersburg. Dafür gerieten wir von Dresden mit seinen alten rußigen Häusern in Verzückung, seinen gotischen Kirchen und seiner Brühlschen Terrasse, auf der wir zum ersten Mal beobachteten, wie die deutschen Frauen beim Stricken von Strümpfen mit einem Glas Bier, wunderbarer Musik und dem herrlichen Blick auf die Elbe ihre malerische Umgebung genossen. Nach Leipzig fuhren wir mit der Eisenbahn, aber von hier nach Frankfurt mussten wir mit Postkutschen reisen.

 

Die erste bemerkenswerte Station auf der Reise in unser neues Leben war die Stadt Weimar. Dort lebte zu jener Zeit die mit meiner Frau verwandte Familie Sabinin. Der damals schon recht alte Erzpriester Sabinin übte auf mich den seltsamen Eindruck eines russischen Priesters aus, der sich nach Figur und Kleidung in einen deutschen Pastor verwandelt hatte. Dazu sprachen in seiner Familie alle Mitglieder Deutsch, und die jüngeren Kinder verstanden überhaupt kein Russisch. Als ob es heute wäre, erinnere ich mich an eine Familienszene aus diesem Anlass. Der ob unserer unverhohlenen Verwunderung angesichts solcher Seltsamkeiten erregte ehrsame Greis begann, sich über seine Frau zu beklagen. Er machte ihr den Vorwurf, ihre Kinder dazu erzogen zu haben, nur Deutsch zu sprechen. Hier liebkoste er seinen kleinen Sohn und wandte sich mit den Worten an ihn: “Komm, mein guter Andreas, komm zu mir!” (Dieser Satz steht im Original auf Deutsch). Es war ersichtlich, dass sie sich alle in solchem Maß an das Deutsche gewöhnt hatten, dass sie selbst nicht mehr bemerkten, wie sie in die deutsche Sprache verfielen. All das verwunderte uns damals außerordentlich. Als Vater Sabinin sagte, dass er schon 24 Jahre im Ausland wohne, wurde ich nur angesichts des Gedankens, so viele Jahre außerhalb Russlands leben zu müssen, von Furcht ergriffen. Jetzt aber, wo ich diese Zeilen schreibe, lebe ich schon im 38-sten Jahr meines Dienstes im Ausland. Hätte mir damals jemand eine solch lange Frist vorausgesagt, so wäre ich wohl umgekehrt. So schrecklich und unmöglich erschien mir das damals. Und hier muss ich auch anmerken, dass mein derart langes Leben im Ausland keineswegs freiwillig war. Vielmehr wurde, wie aus dem weiteren Bericht zu sehen sein wird, mehrmals der Beschluss zur Rückkehr in die Heimat gefasst. Doch jedes Mal gestalteten sich die Umstände so, dass es nicht nur unmöglich war, meinen Posten zu verlassen, sondern mir auch sogar neue Verpflichtungen auferlegt wurden, die mich an den bisherigen Dienstort fesselten. Nicht umsonst sagt das Sprichwort: “Lebe nicht wie Du willst, sondern wie Gott befiehlt!”

Nach Frankfurt fuhren wir mit der Postkutsche und machten halt, da ich mich dort bei der Botschaft melden musste. Zu jener Zeit war der Botschafter beim Deutschen Bund der alte Obré, der noch sehr rüstig und lebendig war. Er erklärte mir, dass in Wiesbaden weder ein Kirchenraum, noch die Wohnungen für den Priester und den Klerus fertig seien, und wir deshalb einige Zeit in Frankfurt wohnen müssten. Indessen musste ich mich jedoch der Großfürstin und dem Herzog vorstellen. Obré fuhr mich nach Biebrich, wo ihre Hoheiten in ihrem bezaubernden Sommerschloss wohnten. Ich erinnere mich dabei an die väterlichen Belehrungen des guten Greises. Da er mich in das deutsche Leben einweihen wollte, nahm er für sich und mich Plätze in der zweiten Klasse der Eisenbahn. In der ersten Klasse, sagte er, würden nur Engländer reisen. Auf dem Weg gab er mir unter anderem solche Belehrungen: “In erster Linie hüten Sie sich davor, Geld an Russen auszuleihen. Und um Gottes Willen geben Sie keine Bürgschaft!”

 

Und tatsächlich waren diese Ratschläge angesichts der in Wiesbaden damals sich befindenden Spielbank für einen Neuling, und besonders einen Priester, keineswegs unnütz. Wie oft musste ich später an diese Warnung des guten Greises denken, der seinerseits natürlich aus der Erfahrung gelernt hatte. Wie viele Fälle gab es, in denen sich das Herz zusammenzog und dem pastoralen Gewissen Gewalt angetan werden musste angesichts irgendeines Familienvaters, der sein Vermögen gänzlich verspielt hatte, und keine Möglichkeit mehr hatte, in die Heimat zurückzukehren. Und wenn es auch geschah, dass ich dem Rat Obrés nicht folgte, so musste ich dafür teuer bezahlen oder in ständiger Furcht leben, bis die Bürgschaft endlich durch mehr oder weniger späte Bezahlung von meinen Schultern genommen wurde.

 

Nach dieser Vorstellung wurde beschlossen, dass wir nach Biebrich umziehen, wo uns eine Wohnung in einem der kleinen Häuser dieses kleinen Städtchens zugewiesen wurde. Doch bevor wir Frankfurt verlassen konnten, erreichte uns die traurige Nachricht vom Ableben der Großfürstin Alexandra Nikolajewna, und wir wurden zum Totengottesdienst nach Biebrich gerufen. Auf diese Weise war mein erster Gottesdienst bei der Großfürstin ein Trauergottesdienst. Es schien gleichsam ein Vorzeichen dafür zu sein, dass es mir beschieden sein sollte, anstatt der geistliche Vater ihrer Hoheit, bald der Priester an ihrer Grabkirche zu werden. Die Nachricht von diesem so unerwarteten Tode hinterließ einen tiefen Eindruck auf die Großfürstin Elisabeth Michailowna, um so mehr, als die Schicksale dieser beiden Großfürstinnen einander so ähnelten. Beide heirateten sie zu gleicher Zeit, beide erwarteten sie fast zu gleicher Zeit Nachwuchs. Man sagt, dass die Großfürstin Elisabeth Michailowna bei der Nachricht von diesem Tod erklärt habe, dass auch sie das gleiche Schicksal erwarte.

 

In Biebrich lebten wir zwei Monate, bis in der Rheinstraße in Wiesbaden das Haus für die Kirche und den Klerus vorbereitet war; und was für eine wunderbare Zeit war das! Ein Spaziergang in dem wunderbaren Biebricher Park oder am Ufer des Rheins, auf dem ständig Schiffe fuhren, die mit Touristen aller Nationen beladen waren. Als der Herbst einsetzte, beschlossen unsere Sänger, das Biebricher Publikum mit einem Konzert zu unterhalten, das aus einigen Stücken von Kirchenmusik und russischer Opernmusik zusammengestellt war. Dies brachte uns mit den Deutschen in näheren Kontakt, die uns bisher als recht ungewöhnlich empfunden hatten. Nicht etwa, weil sie noch keine Russen gesehen hätten, sondern weil wir den Klerus der Russischen Kirche darstellten, den sie bisher noch nie gesehen hatten.

 

Mich betitelte man mit Herr Pastor, und meine Frau mit Frau Pastor. Wie viel Geschwätz gab es, als man hörte, dass ich in der damaligen Situation 1500 Rubel oder 3000 Gulden erhielt. In jener Zeit war in Deutschland alles sehr billig, und 3000 Gulden stellten ein Ministergehalt dar. Selbst die Psalmisten mit ihren 500 Rubeln als Jahresgehalt riefen allgemeinen Neid hervor. Dafür hatten die Sänger der Großfürstin nur 600 Gulden oder 300 Rubel Gehalt, lebten damit aber wie die Deutschen sich ausdrückten – wie kleine Fürsten. Und tatsächlich litten sie auch keine Not. Einige erlaubten sich sogar Pferde zu leihen und zu reiten. Es gab eine Gefahr für diese jungen Leute – das Roulettespiel in Wiesbaden. Doch auf mein Betreiben hin wurden sie dem Gesetz der Ortsbewohner unterworfen, welche unter der Androhung von Bestrafung nicht einmal die Spielsäle betreten durften. Nur ein Psalmist, Schirokogorow, ergab sich dieser Leidenschaft. Er fuhr dafür heimlich nach Homburg, von wo er nicht selten zu Fuß zurückkehrte, nachdem er dort alles bis auf den letzten Pfennig verspielt hatte. Dann schloss er sich in seinem Zimmer ein, las Akathiste (er war Novize verschiedener Klöster) bis zum Erhalt des neuen Gehaltes, worauf er wieder heimlich nachts nach Homburg fuhr, sich und anderen versichernd, dass er schließlich eine große Summe gewänne, was ihm natürlich niemals gelang.

 


Wiesbaden: Dienst am Hofe der Großfürstin

Schließlich war das für unsere Räumlichkeiten vorgesehene Haus soweit fertig gestellt, dass wir nach Wiesbaden umsiedeln konnten. In dem Saal für die Kirche wurde noch gearbeitet und deshalb ließ die Großfürstin den Ikonastas in einem der Säle des Wiesbadener Schlosses aufstellen, wo wir die Gottesdienste begannen. Doch die Großfürstin war nicht mehr als zweimal in dieser Kirche, und als wir sie im November in den fertigen Raum in der Rheinstraße übertrugen, würdigte sie sie nicht eines einzigen Besuches. Der Grund lag darin, dass die Großfürstin mit Näher kommen ihrer Entbindung immer trauriger wurde, fast nirgends mehr hinging, sondern nur noch auf ihrem Sofa lag. Dabei hatte sie solches Heimweh nach Russland, dass sie die aus Russland mitgebrachte Erde dauernd bei sich hielt. Als die Großfürstin Helena Pawlowna ihre Tochter ins Ausland entließ, umgab sie sie mit jungen Leuten in der Hoffnung, dass sie sich alle schnell an die neue Umgebung gewöhnten. Neben dem jungen Priester war ihr ein junger Arzt zugeteilt, der eben erst sein Studium abgeschlossen hatte und eine junge Kammerfrau, die eben erst aus dem Institut geholt worden war. Dies hatte die schlechte Folge, dass in dem Moment ernsthafter, kritischer Minuten niemand aus der Umgebung der Großfürstin auf sie irgendwelchen Einfluss haben konnte.

Nicht selten geschah es, dass der Arzt kam, und sie ihn fragen ließ, wie es um seine Gesundheit stehe, ohne ihn zu sich zu lassen. Als der Priester nach der Liturgie mit der Prosphora kam, dankte sie nur, nahm sie aber nicht an. Alle sahen, dass etwas nicht in Ordnung war. Der Herzog selbst geriet ob eines solch apathischen Zustandes seiner Gattin in Verzweiflung. Sie erwartete gleichsam den bevorstehenden Tod und wollte nichts unternehmen, um die bevorstehende Katastrophe zu verhindern. So ging es bis Ende Dezember, als die aus Petersburg von der Großfürstin geschickte Frau Truba kam, die ehemalige Erzieherin der Großfürstin Elisabeth Michailowna. Dieser Besuch belebte die Großfürstin etwas, und alle atmeten freier.

 

Es näherten sich die Feiertage von Christi Geburt und des Neuen Jahres. Noch vor meiner Abreise aus Russland sprach Großfürstin Helena Pawlowna mit mir darüber, dass es für ihre Tochter unangenehm sein würde, unsere Feiertage im Ausland nach dem alten Kalender zu feiern, besonders wenn unser Osterfest um einige Wochen von dem westlichen abweicht. Sie beauftragte mich deshalb, beim Metropoliten zu fragen, ob er nicht erlauben würde, unsere Feiertage nach dem neuen Kalender zu begehen. In jener Zeit war der Metropolit von Petersburg Antonij. Als ich um seinen Segen für die Abreise ins Ausland bat, berichtete ich ihm von diesem Wunsch der Großfürstin. Darauf antwortete er: “Da Sie dort bei der Großfürstin zelebrieren werden. verfahren Sie so, wie ihre Hoheit es wünscht”.

Nachdem ich diese Erlaubnis hatte, feierte ich Christi Geburt am 13. Dezember, das Neue Jahr am 20., Theophanie am 25. Dezember (im vorigen Jahrhundert betrug die Differenz zwischen altem und neuem Kalender 12 Tage – Red). Aber völlig umsonst. Die Großfürstin Elisabeth Michailowna, die in letzter Zeit überhaupt nicht mehr ihr Zimmer verließ, war nicht in der Kirche, und die Russen, die damals in Frankfurt lebten, unter denen V. A. Schukowski und Fürst A.A. Suworow waren, antworteten auf meine diesbezügliche Benachrichtigung, dass weder am 13., noch am 20. Dezember russische Feiertage seien, und sie an diesen Tagen nicht in die Kirche kommen würden. Aber am 25. Dezember, als ich nach dem neuen Kalender den Feiertag der Taufe Christi feierte, kamen sie, um mit mir Christi Geburt zu feiern. Auf diese Weise zeigte sich der Versuch, unsere Feiertage nach dem neuen Kalender zu feiern, als völlig erfolglos, und ich musste schnell zu der Zählung der Sonntage nach Weihnachten zurückkehren, um wieder auf den alten Kalender zu gelangen. Außer der von den Russen ausgesprochenen Ablehnung dieser Neuerung zwang mich der bald eingetretene Tod der Großfürstin Elisabeth Michailowna, hiervon Abstand zu nehmen.

 


Der Tod der Großfürstin

Am 16. Januar 1845 war ich krank. Ich erinnere mich nicht, was mir fehlte, aber wahrscheinlich war es der Anfang einer ernsthaften Krankheit, denn man legte mir nasse Tücher auf den Kopf; ich hatte Fieber. Plötzlich lief der Sekretär der Großfürstin, Madei, in das Zimmer, in dem ich im Bett lag, und rief: “Schnell, schnell, die Großfürstin stirbt!”. Bei dieser Nachricht sprang ich aus dem Bett, warf alle Tücher von meinem Kopf, kleidete mich mit Mühe und der Hilfe anderer an, nahm die Heiligen Gaben und begab mich in das Schloss. Dort fand ich alle in vollkommener Verwirrung, aber ungeachtet dessen wandten sich alle an mich mit der Frage, was mit mir sei. In solchem Maße sah ich krank aus. Hier erfuhr ich, dass die Großfürstin eine Totgeburt weiblichen Geschlechts gehabt und einen Anfall von Epilepsie erlitten hatte. Ich fragte den Arzt, was er von dem Zustand der Großfürstin halte. Darauf antwortete er: “Tun Sie schnell Ihre Arbeit, sonst wird es zu spät!”. Da kleidete ich mich an und ging mit den Heiligen Gaben zu der Sterbenden. Ich fand sie in furchtbaren Krämpfen und musste einen Moment finden, wenn sie ab und zu Bewusstsein kam, um ihr die Heiligen Gaben zu reichen. In diesen Momenten des Bewusstseins fragte sie nach ihrem neugeborenen Kind, und man sagte ihr, es sei ein Junge, lebendig, und man würde ihn ihr bringen, sobald sie sich beruhigt habe. In dieser trügerischen Gewissheit starb diese junge Großfürstin, die alle Voraussetzungen für eine glückliche Zukunft hatte, von ihrem Gemahl geliebt und ihren neuen Untertanen hoch geschätzt, die Herzogin von Nassau. Als sie den letzten Atemzug aushauchte, warf sich der Herzog klagend an meine Brust mit den Worten: “Genau vor einem Jahr habe ich mit ihr unter dem Hochzeitskranz vor dem Altar gestanden.”

 

Voll erschütternder Eindrücke kehrte ich nach Hause zurück, meine Krankheit völlig vergessend. Es gab wirklich keine Zeit daran zu denken, denn nun begannen die Totengottesdienste am Leichnam der Verstorbenen, sodann die Vorbereitung für die Überführung in unsere Hauskirche, die zu diesem Zweck ganz mit schwarzem Stoff ausgekleidet worden war. Dabei erinnere ich mich, dass mir die Frage des Nassauischen Hofmarschalls sehr seltsam vorkam: “Welche Farbe ist bei den Russen die Trauerfarbe?” In solcher Weise war Russland damals bei den Deutschen noch eine terra incognita, von der man die seltsamsten Vorstellungen hatte. Sie wären keineswegs erstaunt gewesen, wenn man ihnen gesagt hätte, dass in Russland die Trauerfarbe rosa, und die festliche Farbe schwarz sei. Doch hierbei waren sie offensichtlich zufrieden, dass wir uns mit ihnen zusammen in schwarze Farbe kleideten angesichts des allgemeinen Kummers, der sie wie auch uns ereilt hatte. Unsere Kirche war bald fertig, und am dritten Tag nach dem Tod der Großfürstin wurde ihr Leichnam aus dem Schloss in die Kirche gebracht. Die Zeremonie fand abends statt, bei Fackellicht, unter Begleitung unseres Klerus im Ornat und unter dem Gesang: “Heiliger Gott”. Von diesem Moment an wurden in unserer Kirche täglich Panichiden am Sarg der Verstorbenen gefeiert, fast jedes Mal in Anwesenheit des Herzogs und des gesamten Hofes wie auch unserer Gesandtschaft in Frankfurt, bis ein Platz für die zeitweise Aufbewahrung des Körpers in der städtischen protestantischen Kirche geschaffen wurde. Unter der Orgel wurde eine Art Kapelle errichtet, wo wir Totengedenken feierten. Die Übertragung des Körpers in diesen Raum wurde auch feierlich vollzogen, nachdem in unserer Kirche der Totengottesdienst stattgefunden hatte, in dessen Verlauf ich eine kurze Rede in deutscher Sprache, an den Herzog gewandt, hielt.

 

Als denkwürdige Episode bei der Erstellung dieser Rede kommt mir ein Streit mit meinem Deutschlehrer in den Sinn, unter dessen Anleitung ich diese Rede verfasste. An einer Stelle, wo ich mich folgendermaßen ausdrückte: “Unser Herr Gott Jesus Christus”, strich er mir das Wort Gott durch. Darauf bemerkte ich, dass ich ihn nur um die Berichtigung des Stiles bäte, nicht aber meiner Gedanken oder meines Glaubens. Er erwiderte mir äußerst naiv, dass er nur meinen Stil verbessere: auf Deutsch könne man Herr Gott Jesus Christus nicht sagen, das widerspräche dem Geist der deutschen Sprache und schockiere das Ohr eines jeden Deutschen. Vergeblich bemühte ich mich zu beweisen, dass hier nicht der Ort sei, über die Gottheit Jesu Christi zu rechten, und dies unser gottesdienstlicher Ausdruck ist; mein Lehrer bestand darauf, dass man das auf Deutsch nicht sagen könne. Das zeigte mir, in welchem Maße der protestantische Rationalismus in Fleisch und Blut der Deutschen eingedrungen ist, der es nicht einmal zulässt, eine ihm fremd gewordene Idee in Worten auszudrücken. Auf diese Weise endete mein Dienst am Hof. Es begann der Dienst in der Gemeinde.

 


Wiesbaden – Dienst in der Gemeinde

Als Kurstadt und Ort der Roulette ist Wiesbaden selbst ein Anziehungspunkt für viele Russen. Daneben jedoch befindet es sich beinahe im Zentrum besonders frequentierter Kurorte wie Schwalbach, Schlangenbad, Ems, Kreuznach, Soden. Für all diese Orte diente die Wiesbadener Kirche als Zufluchtsort für das Gebet und kirchliche Amtshandlungen. Da ich als junger Priester nach Wiesbaden gekommen war, hatte ich noch keine Gelegenheit gehabt, viele Amtshandlungen zu vollziehen. Die erste Taufe, die ich zu vollziehen hatte, war in der Familie V.A. Schukowskij und des Fürsten A.A. Suvorov, die beide zu dieser Zeit in Frankfurt wohnten. Ich erinnere mich, wie der Fürst Suvorov um seine kleine Tochter fürchtete, dass der junge unerfahrene Priester sie im Taufbecken ertränken könnte. Wie üblich entfernte er sich mit seiner Gattin aus dem Zimmer, in dem die Taufe stattfand, und als der Moment zum Untertauchen des Kindes nahte, spitzten sie beide die Ohren, und zu ihrer beider Schrecken war nur das Plätschern des Wassers zu hören, während das Kind weder vor dem Eintauchen noch danach einen Laut von sich gab. Das lag daran, dass das Kind schlief und beim Eintauchen in das warme Wasser überhaupt nicht aufwachte. Doch ungeachtet dieser natürlichen Angst wagte der Fürst – ein Russe an Seele und Leib – nicht, die hergebrachte Ordnung zu verletzen, nach der die Eltern bei der Taufe ihrer Kinder nicht anwesend sind. Als danach im Hause Schukowskij die Taufe des neugeborenen Sohnes Paul anstand und die Sprache auf diese Angst des anwesenden Fürsten Suvorov kam, erzählte Wasilij Andrejewitsch eine Anekdote, die für jene Zeit charakteristisch war. 

Bei einer Reise mit dem Thronfolger (dem späteren Kaiser Alexander II.) durch Russland – sagte er – machten wir in einem Dorf halt. Der Priester dieses Dorfes hatte gerade eine Taufe, und er bat seine Hoheit durch mich, Pate seines Neugeborenen zu werden. Der Thronfolger willigte ein und beauftragte mich, ihn bei der Taufe zu vertreten. Natürlich wurde hierfür der Nachbarpriester eingeladen. Unser Priester als Gastgeber kümmerte sich um sein Neugeborenes und bemerkte nicht, wie der Taufritus begann. Als er es jedoch plötzlich bemerkte, verschwand er blitzschnell aus dem Zimmer. Nach der Taufe frage ich ihn: – “Sagen Sie, Vater, weshalb kann der Vater bei der Taufe seines Kindes nicht anwesend sein?” – Und was, meinen Sie, antwortete er mir? – “Man schämt sich, Hochwohlgeboren!” Und hier ergoß sich Zhukovskij in seinem gutmütigen Lachen und fügte hinzu: “Als ob er hier etwas Ungeziemliches getan hätte!”

Dabei wandten sich sowohl Suvorov als auch Schukowskij um eine Erklärung dieses unverständlichen Brauches an mich. Ich antwortete, dass man keine andere Erklärung dafür geben könne, als dass den Paten größere Bedeutung bei der Taufe beigemessen wird, die nach der Ausdrucksweise unseres Volkes Taufvater und Taufmutter des Täuflings werden. 

In der Folge hatte ich nicht selten Gelegenheit, mit Schukowskij über ähnliche Themen zu sprechen. Er war in seinen Ansichten konservativ, doch wollte er jeden Vorgang, jeden kirchlichen Brauch mit Sinn füllen. Ihm war die Autorität der Kirche heilig, und er hielt sich selbst in solchen Fragen daran, die an sich freie Überlegung zuließen. Ich erinnere mich, wie wir einmal über das Leben nach dem Tode sprachen und zu dem Gedanken von der Möglichkeit der Ansiedelung der Menschen nach der Auferstehung auf verschiedenen Planeten gelangten, wie er sich plötzlich selbst mit den Worten: “Doch darüber steht es uns nicht an, nachzudenken, wenn die Kirche uns darüber nichts sagt”, Einhalt gebot.

Meine Erinnerungen über Schukowskij wurden im “Russischen Archiv” veröffentlicht, weshalb ich sie hier nicht wiederhole. Ich erinnere mich nur an einen Umstand, der für mich selbst lehrreich war. So wie die erste Taufe im Hause Schukowskij stattfand, war dort auch die erste Beichte, die ich abzunehmen hatte. Ich vergesse nicht, wie mich jungen und unerfahrenen Geistlichen die Autorität des damals schon berühmten Dichters erdrückte, den wir in den Schulen als eine der wichtigsten Koryphäen unserer nationalen Literatur behandelten. Nachdem ich seine tiefschürfende, man kann sagen, zutiefst christliche Beichte angehört hatte, konnte ich ihm nichts anderes sagen, als vor ihm meine Jugend und pastorale Unerfahrenheit zu bekennen. Als Antwort darauf küsste er mir die Hand und sagte: “Etwas besseres als diese Lektion der Demut hätten Sie mir nicht geben können”.

Bald hatte ich Gelegenheit, im Hause Schukowskijs einen unserer anderen berühmten Literaten Beschluss, nämlich N.V. Gogol. Es war die Anfangszeit seiner nervlich-seelischen Erkrankung. Einmal erhielt ich von ihm aus Frankfurt eine Nachricht folgenden Inhalts: “Kommen Sie zu mir, um mir die Kommunion zu bringen. Ich sterbe”. Als ich auf diesen Ruf nach Sachsenhausen (dem Teil Frankfurts auf der anderen Seite des Flusses), wo Schukowskij wohnte, kam, fand ich den vermeintlich Sterbenden auf den Beinen und auf meine Frage, warum er sich in solcher Gefahr wähne, streckte er mir seine Hände entgegen und sagte: 

“Sehen Sie, sie sind ganz kalt!”.

Mir gelang es jedoch, ihn davon zu überzeugen, dass er keineswegs so krank war, um damit den Empfang der Heiligen Kommunion zu Hause zu rechtfertigen, und ich überredete ihn, nach Wiesbaden zu kommen und hier die Kommunion zu empfangen, was er auch tat. Bei dieser Gelegenheit bemerkte er in meinem Arbeitszimmer auch seine Werke. 

– Wie, – rief er beinahe erschrocken aus, – auch diese unglücklichen sind in Ihre Bibliothek gelangt!

Es war eben die Zeit, in der er alles bereute, was er geschrieben hatte. Danach kam er auf dem Weg aus Ems bei mir vorbei. Als er erzählte, dass er dort viele russische Damen kennen gelernt hatte, bemerkte er, dass russische Frauen offensichtlich eine solch schlechte Natur besäßen, dass sie sich öfters als andere zur Kur nach Ems begeben müssten. 

– Und an all dem ist unser wunderbares Petersburg schuld! – bemerkte er. 

Später sah ich ihn wieder bei Schukowskij, doch er war trübsinnig, sagte kaum etwas, ging im Zimmer auf und ab und hörte unseren Gesprächen zu. 

1845 verbrachte Fürst Suvorov den Sommer mit seiner Familie in Wiesbaden, und hier ereignete sich ein Vorfall, von dem er gerne erzählte. Aus irgendeinem Grund stritt er mit seiner Waschfrau. Diese beschwerte sich über ihn bei der Polizei, und Fürst Suvorov wurde zu einer Geldstrafe verurteilt. 

In demselben Jahr wurden wir am 26. August durch die Geburt unseres ältesten Sohnes, Alexander, erfreut, für dessen Taufe ich den Onkel meiner Frau, Erzpriester Sabinin, bat aus Weimar zu kommen. So fern lag es mir, meine eigenen Kinder zu taufen. In der Folge taufte ich nicht nur meinen zweiten Sohn, sondern nahm auch meiner Frau die Beichte ab. Die Praxis des Dienstes im Ausland machte sich bald bemerkbar. Sich selbst überlassen, muss der im Ausland tätige Priester schwierigste Fragen lösen, die in Russland kein Priester ohne Konsultation mit seinem Bischof oder der Konsistorialverwaltung entscheiden würde. Jetzt gibt es noch Telegraphen, mit deren Hilfe man sich in schwierigen Situationen Erleichterung schaffen kann, aber damals brauchte man Wochen und Monate, um in einer geistlichen Angelegenheit eine Antwort zu erhalten. Zum Beweis dafür, mit welchem Zeitaufwand und welchen Schwierigkeiten damals alles abgewickelt wurde, genügt es, auf den Transport der Körper von verstorbenen Russen nach Russland zu verweisen. Außer der ausgedehnten Korrespondenz mit der russischen Regierung musste man Genehmigungen all der deutschen Behörden beibringen, durch deren Territorium der Transport laufen sollte. Und bei der damaligen Teilung Deutschlands in eine Vielzahl kleiner Staaten war das keine leichte Sache. So musste man auf dem Weg von Frankfurt nach Berlin, wobei es noch keine Eisenbahn gab, außer dem Territorium dieser Freien Stadt das Gebiet von Nassau, Hessen-Homburg, Kurhessen und einer großen Zahl verschiedener sächsischer Fürstentümer berühren, so dass ein halbes Jahr verging, bevor man die Genehmigungen all dieser selbständigen Staaten für den Transport eines Leichnams erhielt. 

In erster Linie hatte ich mit sterbenden Landsleuten in Ems zu tun, wohin russische Ärzte nicht selten Kranke im letzten Stadium der Schwindsucht schickten. Da es damals noch keine Telegraphen gab, kam nachts nicht selten ein Kurier mit dem Ruf zu einem Sterbenden, und man musste eine Postkutsche nehmen, um den Kranken noch lebend zu erreichen. Doch eine deutsche Postchaise ist bei weitem nicht das gleiche wie unsere Wechselkutsche. Kein deutscher Postkutscher beeilt sich, um auch nur eine Meile in der Stunde schneller zu fahren als üblich. In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an eine Anekdote, die dem Fürsten Gortschakow zustieß, der zu jener Zeit bereits Kanzler des Russischen Reiches war. Er erzählte diese Geschichte selbst gerne. Es war in den sechziger Jahren, als der Zar in Kissingen war. Fürst Gortschakow befand sich im Gefolge des Zaren. Zum Empfang der Gäste hatte man Paradekutschen nach Schweinfurt, der letzten Eisenbahnstation vor Kissingen, geschickt: für die Mitglieder des Zarenhauses die Hofkutschen des bayerischen Königs, und für das Gefolge gemietete Kutschen mit Postgeschirr. Dem Fürsten Gortschakow stellte man eine Kutsche, auf deren Sattel ein imposanter bayerischer Postkutscher in leichtblauem Anzug mit silbernen Borten (die bayerischen Nationalfarben) saß. Als die Kutsche eben den Bahnhof verlassen hatte, gingen die Pferde wegen eines unbedeutenden Anstiegs im Schritt. Der Fürst, der ob solcher Unaufmerksamkeit auf seine Person unzufrieden war, bat seinen Begleiter (es war wohl ein Hamburger), dem Kutscher zu sagen, er solle schneller fahren. Doch dieser, obwohl er wusste, welche wichtige Person er fährt, wandte sich ganz ruhig halb um und sagte zu seinen Passagieren: “Haben Sie Eile? Ich habe keine!”, stieg vom Bock und ging neben seinen Pferden, um ihnen den Anstieg auf den Hügel zu erleichtern. 

In dieser Anekdote spiegelt sich der ganze Aufbau des sozialen Lebens der Deutschen wider, für die das Gesetz als Sache höher steht als alle Beziehungen zur Persönlichkeit als einer Formalität. Ich war auch einmal erstaunt, als ein einfacher Postknecht seine Mütze mit den Worten “danach will ich nicht auf der Welt leben” auf die Erde warf, nur weil der Stationsaufseher von ihm eine geringfügige Abweichung von den Vorschriften für das Einspannen der Pferde verlangte. Wir Russen mit unserer offenen Natur schauen mit ironischem Mitleid auf solche Enge des deutschen Charakters, indessen beruht auf dieser Kleinlichkeit der Beachtung der Vorschriften so fest der Aufbau des Lebens in Deutschland. 

In Wiesbaden selbst hatte ich nur mit Russen zu tun, die nicht so sehr aus gesundheitlichen Gründen als viel mehr zum Amüsement hierher kamen. Ich erinnere mich an eine charakteristische Bekanntschaft mit dem auf der russischen Ballettszene bekannten Artisten Golz. Zunächst lernte ich mit Erstaunen in ihm einen wirklichen Russen kennen, orthodox und fromm. Da er häufig nach dem Gottesdienst in unserer Kirche bei mir hereinschaute, überraschte er mich einmal mit folgender Bemerkung:

– Gestatten Sie, dass ich Ihnen als Freund eine Bemerkung mache, sagte er mir. Sie sind ein junger Priester und Sie zelebrieren mit solcher Hingabe, dass ich Sie darauf aufmerksam mache – das kann sich negativ auf Ihre Gesundheit auswirken. Ich sage Ihnen das als erfahrener Meister in meinem Beruf. In unserer Kunst gibt es auch Enthusiasmus, und ich weise immer junge Leute darauf hin, dass sie sich nicht zu sehr ihrem Beruf hingeben sollten.

 


Bekanntschaften mit Deutschen 

Doch in Deutschland zu leben und ausschließlich mit meinen Landsleuten zu verkehren, schien mir ungenügend. Ich wollte mit der hiesigen Bevölkerung bekannt werden und Kontakt aufnehmen, ihre Lebensart kennenlernen, ihre Ansichten näher erfahren. Mit diesem Ziel machte ich von Anfang an Besuche bei den ortsansässigen Pastoren und einigen Persönlichkeiten aus der Gesellschaft. Nach russischem Brauch dachte ich als Familienvater, diese Bekanntschaften auch auf die Familien auszudehnen. Mit diesem Ziel lud ich einige ausgewählte Personen zu mir zum Mittagessen ein. Sie nahmen alle meine Einladung willig an und aßen bei mir. Aber danach vergehen Wochen, ohne dass wir unsere Bekannten sehen. Schließlich erhielt ich von einem der Pastoren, die bei mir mit ihren Gattinnen gegessen hatten, eine Einladung für den folgenden Tag um sieben Uhr abends in einem bestimmten Gasthaus. So, denke ich mir, die haben wohl zusammengelegt, um sich ein Mittag- oder Abendessen im Restaurant zu erlauben. Aber weshalb werde nur ich eingeladen, meine Frau aber nicht? Wahrscheinlich geben sie ein Junggesellenessen. Am nächsten Tag gehe ich in das angegebene Restaurant und treffe dort schon einige meiner Bekannten an einem völlig ungedeckten Tisch. Vor jedem von ihnen steht eine Flasche Wein. Kaum habe ich mich gesetzt, da kommt schon der Kellner zu mir und fragt mich, was für einen Wein ich wünsche. In der Verwirrung zeigte ich auf die Flasche meines Nachbarn, und man brachte mir den gleichen. Inzwischen kommen meine übrigen Bekannten, und jeder von ihnen bestellt sich eine Flasche Wein. Ein Gespräch wird begonnen, das ziemlich lange anhält. Schließlich steht einer auf, zahlt für seine Flasche und geht. Danach tun der zweite und dritte das gleiche. Endlich bezahle auch ich meine Flasche und denke beim Heimgehen darüber nach, was das wohl bedeutet. Es bedeutete, dass die Deutschen mir eine praktische Lektion erteilen wollten, wie sie leben und wie man leben muss, wenn man mit ihnen Bekanntschaft pflegen will. Da es in Deutschland – besonders im Süden – kein solches Familienleben gibt, wie wir es kennen, dienen Gasthäuser als Treff- und Versammlungspunkte für Männer, und für ihre Frauen und Töchter – Cafés. Einem Russen fällt es nicht nur schwer, nein ihm ist es unmöglich, sich an ein solches Leben zu gewöhnen. Deshalb endete auch mein Versuch, mit Deutschen Bekanntschaft zu schließen, nicht nur in meinem Wiesbadener Leben, sondern genauso für den Rest meines langen Aufenthaltes in Deutschland, kläglich. 

Dafür ist es umso erstaunlicher, wie die Deutschen, die selbst das russische Leben probiert haben, sich daran gewöhnen und es schätzen! In Wiesbaden hatte ich nur eine Familienbekanntschaft mit einem Deutschen. Es war ein deutscher Pastor, der zwanzig Jahre in Petersburg gedient und sich in Deutschland zur Ruhe gesetzt hatte. Er erzählte selbst, dass er nach dem Leben in Russland keine Bekanntschaft mit den Einheimischen mehr pflegen konnte. Ihm kam es schon fremd vor, seine Familie allein zu lassen und abends in ein Gasthaus zu gehen, um dort und nur dort seine Freunde und Bekannten zu treffen. 

Da ich keine Nahrung im lebendigen Umgang mit den Deutschen fand, nahm ich mich mit umso größerem Eifer des Studiums ihres geistigen und religiösen Lebens aus Büchern, wissenschaftlichen und kirchlichen Zeitschriften an. Hier öffnete sich mir ein weites Feld für die Betrachtung des inneren Lebens dieses Volkes, das in einzelnen Persönlichkeiten vor meinen Augen kreiste. Wenn irgendwo vorzüglich abstrakte Theorien fest und unverbrüchlich mit dem tatsächlichen Leben verquickt werden, so ist dies in Deutschland. Ich hatte Gelegenheit, dies aus der Nähe zu beobachten, man kann sagen, ganz im Höhepunkt der geistigen Bewegung der Deutschen. Das waren die Jahre, die der Revolution von 1848 vorangingen. Das deutsche Volk, das sich damals noch unter dem strengen Regime der Metternichschen Politik befand, strebte nach Freiheit. Bisher war ihm nur die Freiheit der Wissenschaft in den Wänden der Universitäten überlassen. Selbst der schlaue Metternich hatte übersehen, dass sich diese freien Ideen allmählich in das Leben einschlichen und die ganze Masse des Volkes ergriffen, das plötzlich die Schwere der Bevormundung verspürte, unter der es die deutschen Regierungen immer noch hielten. Unter der Bürde der Zensur konnte der Gedanke daran nicht nach außen treten, und daher fand er sich einen Ausgang in der kirchlichen Bewegung. Niemals, scheint mir, wurden mit solcher Geschwindigkeit so viele neue Sekten in der Evangelischen Kirche geboren wie in jenen Jahren vor der Revolution. Es genügte, dass in Trier das unvergängliche Kleid des Herrn zur Verehrung ausgestellt wurde, um Ronge mit seinem Protest auf den Plan zu rufen, der in kurzer Zeit die Neukatholische Kirche gründete. Es reichte, in Preußen die Lutheraner zu beeinträchtigen, damit die so genannten freien Gemeinden erschienen, die sich zusammen mit Ronges Gemeinde beim ersten Donner der Revolution in politische Klubs verwandelten, in denen anstelle religiöser Gesänge revolutionäre Lieder gesungen wurden. Doch bis es dazu kam, verlief die religiös-philosophische Bewegung auf der Grundlage des kirchlichen Lebens, und dies zu verfolgen war außerordentlich interessant. 

Doch all dies zu sehen, ohne die Möglichkeit zu haben, sich mit irgend jemandem darüber auszusprechen, war sehr schwer. Soll ich von all dem schreiben? Ich habe geschrieben, doch für mich. Damals war die Zeit nicht so, dass man das Geschriebene auch hätte drucken können. Bei uns fürchtete man, etwas zur Kenntnis zu geben, das Anstoß erregen konnte, selbst wenn es außerhalb der Grenzen Russlands geschah. Und was innerhalb Russlands geschah, davon wusste man nur bei der Geheimpolizei. Ich erinnere mich, wie ich Auszüge aus dem eben erschienenen Buch des Barons Haxthausen über Russland bezüglich unserer altgläubigen Sekten mit nach Russland brachte, und sich der Erzpriester Kotschetow, der an der Petersburger Akademie Kirchengeschichte lehrte, darüber freute wie über einen Schatz. Solche Geheimniskrämerei wurde damals in dieser Hinsicht bei uns betrieben, dass Lipandri mehr über die russischen Altgläubigen wusste, als ein Professor an einer geistlichen Hochschule. Deshalb kam es mir auch gar nicht in den Sinn, in irgendeiner russischen kirchlichen Zeitschrift etwas von meinen Beobachtungen über das kirchliche Leben in Deutschland zu veröffentlichen, wie das jetzt gemacht wird. 

Zum Glück lud der damalige Direktor der geistlichen Lehrverwaltung, K.S. Serebrinowitsch durch ein Zirkular alle unsere Priester im Ausland dazu ein, mit ihren Arbeiten an der unter seiner Redaktion erscheinenden Zeitschrift des Erziehungsministeriums mitzuwirken. Ich nutzte dies und fing an, ihm meine Beobachtungen zu schreiben, von denen er nicht eine einzige veröffentlichte, mir aber doch Mut machte, meine – wie er sich ausdrückte – interessanten Mitteilungen fortzusetzen, indem er schrieb, dass die Mitglieder des Hl. Synods sie mit großer Aufmerksamkeit lesen. Dadurch beflügelt, begann ich ganze Traktate über die religöse Bewegung in Deutschland zu verfassen, ebenso Abrisse der dogmatischen Wissenschaft und Literatur wie auch Überblicke über die Zeitschriften und Periodika geistlichen und kirchlichen Inhalts nach Jahren. All dies ist irgendwo in den Archiven geblieben oder vielleicht auch ganz verloren gegangen. Das ist in jedem Fall mit meinem Abriß der philosophisch-dogmatischen Lehre in Deutschland in Verbindung mit den politischen Ereignissen des Jahres 1848, den ich für den verstorbenen Metropoliten Gregor auf seinen eigenen Wunsch verfaßte, geschehen. Ein Jahr nach seinem Tode erhielt ich aus dem Konsistorium eine Frage, ob bei mir ein Entwurf jenes Artikels verblieben sei, und ob ich ihn nicht wiederherstellen könne. Doch zu meinem Bedauern und zu meiner Schande muss ich bekennen, dass ich niemals Entwürfe für meine Arbeiten anfertigte. Das ist noch ein Rest akademischer Unachtsamkeit, als ich meine Gedanken auf Grund der mir vorliegenden Materialien sofort ins Reine schrieb.

 


Gedankenaustausch mit berühmten Russen 

In den Jahren vor der Revolution von 1848 waren noch viele Russen im Ausland, und zwar in erster Linie Persönlichkeiten der höchsten und gebildeten Gesellschaft. Mit ihnen konnte man sich über seine Gedanken aussprechen, und die Gedanken waren in den alten Zeiten schwer für Russen in der Fremde. Ich erinnere mich eines solchen Abends, es war ein wunderbarer südlicher Abend, als ich mit meiner verstorbenen Frau aus dem Fenster schaute und beinahe darüber weinte, als wir uns über unser Schicksal beklagten, das uns in die Fremde geführt hatte. Doch dieses Heimweh ist eine vergängliche Krankheit. Die Gedanken, die auf einen denkenden Menschen eindringen, der unter Fremden lebt, verzehren die Seele mit einem unbeschreiblich heissen Verlangen nach dem Wohl des Vaterlandes und gleichzeitig mit einer Wehmut, warum in der Heimat nicht alles so gut ist, wie man gerne möchte. Jeder Russe, der sich im Ausland nicht nur vorübergehend aufhielt, erfuhr ein solches Mitleid mit seiner Heimat. Doch etwas anderes ist erstaunlich, was ich an mir selbst erlebte. Diese beunruhigenden Gedanken verfliegen von selbst, wenn man nach Russland kommt und einige Zeit hier lebt. Wenn man jedoch die Grenze der Heimat wieder überschreitet, treten sie wieder mit neuer Kraft in der Seele auf. Soll man das dem Umstand zuschreiben, dass das brodelnde tägliche Leben einen so gefangen nimmt, dass man sich nicht über alles Rechenschaft ablegt, was um einen herum geschieht, oder dem, dass einen in diesem einen umgebenden Milieu nichts an diese Gedanken erinnert, die vom Vergleich des heimischen Lebens mit dem fremden entstehen, das seine eigene Ordnung hat und in Fleisch und Blut anderer Völker übergegangen ist?

Ich erkläre mir dies so: wenn man vor einem riesigen Bild steht, auf dem unter dem Pinsel des Künstlers das Leben in verschiedenen Formen pulsiert, so sieht man nur einzelne Gruppen und in ihnen Figuren, auf deren Gesichtern Gefühle oder Gedanken ausgedrückt sind, doch einen Gesamteindruck erhält man nicht, solange man sich nicht weiter entfernt, um mit einem Blick den ganzen Effekt der Darstellung zu erhaschen, die ganze Idee des Künstlers. So ist es auch mit diesen patriotischen Gedanken. Solange wir uns selbst in diesem Wirbel des Lebens befinden, begeistern wir uns und beschäftigen uns mit einzelnen Erscheinungen, und die Gedanken, wenn sie auch von dem einen oder anderen Mißstand vorübergehend aufgewühlt werden, schlummern bald wieder unter immer neuen Eindrücken ein. Doch wenn man sich selbst aus diesem Milieu losreißt und die Geschehnisse nicht aus nächster Nähe, sondern sozusagen aus der Vogelperspektive betrachtet, so erscheint alles klarer, sowohl der Anfang als auch das Ende jeder Erscheinung, aber auch die Mittel, um Böses abzuwenden oder zu berichtigen. Die Deutschen haben ein Sprichwort: Vor lauter Bäumen sieht man den Wald nicht. Dieses Sprichwort kann man besonders auf unsere Anführer anwenden, die tatsächlich mehr die Bäume sehen als den Wald selbst. 

Unter den berühmten Russen jener Zeit hatte ich Gelegenheit, den Grafen Bludov kennenzulernen, der aus Rom zurückkehrte, wohin er zum Abschluss des Konkordats mit dem Papst gereist war; mit A.N. Murawiew, ebenfalls nach seiner Reise nach Rom, die er später in seinen Römischen Briefen beschrieb; mit M.P. Pogodin u.a. – Bludov lernte ich in der Familie Schukowskij in Frankfurt kennen. Ich erinnere mich daran, wie er ihn beschämte, dass seine Kinder damals nicht russisch sprachen. 

– Nun schauen Sie, – sagte er zu mir gewandt, – unser russischer Barde, unser Homer, der seine Odyssee in seiner Familie liest, und seine Familie versteht ihn nicht. Selbst hat er Homer gehört, ohne ein Wort Griechisch zu verstehen. Doch hier verstehen ihn weder die Frau noch die Kinder, gleich wie klangvoll er ihnen dieses Epos liest. 

Der arme Schukowskij zeigt uns als Antwort die von ihm selbst zusammengestellten Tabellen, nach denen er seinen Kindern russisch beibringen wollte. 

– Mit A.N. Murawiew, der mich in Wiesbaden besuchte, hatte ich eine Unterhaltung über die vermeintliche Herrschaft des Zaren über die Russische Kirche. Ich versuchte zu beweisen, dass bei uns, wenn auch nicht de jure, so doch de facto, die Herrschaft bestand und führte ihm als Beispiel einen Fall an, der sich mit mir ereignet hatte. Bei Abschluss des Studiums schrieb ich eine Magisterdissertation über die Anglikanische Kirche im Vergleich zur Orthodoxen, und hier wies ich unmittelbar auf die Besonderheit unserer Kirche hin, dass wir die Vorherrschaft des Zaren über die Kirche nicht anerkennen, wogegen in der Anglikanischen Kirche der König nach protestantischem Prinzip das Haupt der Kirche ist, daher Episcopos. Nachdem ich die Dissertation eingereicht hatte, begab ich mich in aller Ruhe in die Familie meines damals noch zukünftigen Schwiegervaters, des Erzpriesters Kotschetow, als plötzlich ein Kurier aus der Akademie bei mir erscheint und mich auffordert, unverzüglich beim Inspektor zu erscheinen, der damals der Archimandrit Joseph war. Als ich bei ihm erschien, empfing er mich mit folgenden Worten:

– Was haben Sie da in Ihrer Dissertation geschrieben, dass bei uns der Zar nicht das Haupt der Kirche ist. Dafür erhalten Sie doch nicht den Magistergrad!

Auf meine bescheidene Frage: “Ist das denn nicht so?” antwortet er: 

– Ja, das kann man doch nicht sagen! Das wird nicht erlaubt! Hier, nehmen Sie Ihre Dissertation und ändern Sie diese Stelle, oder sprechen Sie überhaupt nicht darüber. 

Als ich das Murawiew erzählte, geriet er in großen Zorn.

– Das ist alles das Werk von Graf Protasow! Er wird dafür und für vieles anderes Gott Rechenschaft geben!

Und zum Abschluss sagte er mir:

– Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, sowie ich nach Russland zurückkehre, schreibe ich und veröffentliche direkt, dass das Verleumdung ist, und dass der Herrscher bei uns nicht das Oberhaupt der Kirche ist! 

Und wirklich, er setzte sein Wort in die Tat um, veröffentlichte darüber einen Artikel, den er mir zusandte, und den ich eiligst ins Deutsche übersetzte und an eine der evangelischen Kirchenzeitungen schickte, wo sie auch mit dem Namen des Verfassers abgedruckt wurde. Bei dieser Begegnung griff mich Andrej Nikolaewitsch auch wegen der Übertretung der Fastengebote im Ausland an. Vergeblich bemühte ich mich, mich mit der Schwierigkeit des Kaufs von Fastennahrung und dem Ungeschick der Köchin bei der Zubereitung von Fastenspeisen zu verteidigen. Er verwies auf das eigene Beispiel. 

– Sehen Sie, ich wohne in Hotels, und an Fastentagen ernähre ich mich mit Salat. Sehen Sie, sagen auch Sie Ihrer Eva, dass sie Sie nicht verführen soll. 

– Schließlich, – sage ich, – ist dieses Essen so gleichgültig, dass es niemanden verführt.

– Aber, – entgegnete er, – Sie selbst verführen.

– Dann, – antwortete ich, – werde ich nie Fleisch essen ....

Das Jahr 1847 ist mir aus familiären Gründen in guter Erinnerung. In diesem Jahr wurde mein zweiter Sohn Paul geboren, und zugleich mit seiner Geburt erkrankte meine Frau an einem Brustleiden, dem sie nach drei Jahren erlag. Nach einem besinnlichen Familienleben und angenehmen dienstlichen Betätigungen musste ich nun auf einmal alle Unannehmlichkeiten des Lebens in der Fremde erfahren, unter fremden Menschen. Meine kranke Frau musste ich mit dem älteren Sohn nach Bad Ems bringen, den Neugeborenen aber zu Hause in den Händen einer deutschen Gouvernante lassen. Selbst musste ich nach Heidelberg reisen, wohin man mich zu der sterbenden Tschernyschewa-Kruglikowa rief. Überhaupt hat die Wiesbadener Kirche um sich eine große und über ein riesiges Territorium verstreute Gemeinde. Die Wiesbadener Kirche, die sich inmitten der vornehmlich von Russen besuchten Kurorte befand, musste sich um die Bedürfnisse der Russen in Heidelberg und Baden, in Straßburg und auf die gesamte Länge des Rheins kümmern, so dass es nicht selten geschah, dass der Priester, der von einer Amtshandlung an einem Ort zurückkehrte, sofort auf der Eisenbahn die Einladung erhielt, in die andere Richtung zu fahren, und, ohne nach Hause zu kommen, sich wieder auf den Weg begeben musste. So geschah es auch mir in dieser Zeit. Nach mehrtägiger Abwesenheit zurückgekehrt, finde ich meinen Kleinen sterbend auf den Armen des Kindermädchens, und aus Ems die Nachricht von der Verschlechterung des Gesundheitszustandes meiner Frau. All das regte mich in solchem Maße auf, dass ich selbst krank wurde und mich ins Bett legte. Und hier, in Wiesbaden selbst unaufschiebbare Amtshandlungen für Russen. Doch Gott half mir, einen Ausweg aus all diesen Schwierigkeiten zu finden. Für den Kleinen fanden wir sofort eine Amme, und er lebte auf. Ich selbst wurde dank meiner jungen Kräfte (ich war damals erst 28 Jahre alt) schnell gesund, besorgte die mich erwartenden Amtshandlungen in Wiesbaden und begab mich nach Bad Ems. Hier berichtete ich erst meiner Frau von all dem Ungeschick, das mir widerfahren war, und das man ihr bisher verheimlicht hatte, um sie nicht zu beunruhigen, und hier erfuhr ich von dem Arzt, der meine Frau behandelte, das Todesurteil für sie, da sie nach seinen Worten, die sich leider bestätigten, noch einige Zeit mit ihrer Krankheit kämpfen konnte, zu ihrer Besiegung gab es jedoch keine Möglichkeit. Und in der Tat, ganz am Anfang ihrer Behandlung in Bad Ems trat bei ihr Fieber auf, und die Behandlung musste eingestellt werden. Nach Wiesbaden zurückgekehrt, tauften wir unseren inzwischen gekräftigten Kleinen. Bei seiner Taufe war der Pate ein gewisser Oberst Kublitschkij, den ich hauptsächlich wegen seiner wunderbaren Hinwendung zu Christus in lebhafter Erinnerung habe. Das war ein ganz weltlicher Mensch und nach seinen eigenen Worten verbittert gegen Gott. 

– In Russland wütete die Cholera, – so erzählte über sich Kublitschkij, – und in einem Dorf, dem einzigen in der Umgebung, starben die Leute schrecklich, und all die besten von meinem Gesinde. Es starb der Tischler, es starb der Schmied. Einmal kommen die Leute zu mir und sagen: Iwan (oder Peter) ist gestorben, der für mich das rechte Auge oder die rechte Hand auf dem ganzen Gut war. Da rieß ich mir die Mütze vom Kopf, warf sie auf die Erde, wandte mich mit den Fäusten zum Himmel und sprach eine furchtbare Gotteslästerung gegen die Vorsehung aus. 

Danach fuhr er mit seiner Frau ins Ausland und irgendwo im Süden Frankreichs überaß er sich nach seinen eigenen Worten an Süßigkeiten und und erkrankte lebensgefährlich. 

– Ich lag, – erzählte er, – besinnungslos. Meine Frau saß an meinem Bett und erwartete meinen Tod. Im Halbschlaf oder im Wahn sehe ich, dass man mich auf irgendeinen Berg zerrt, immer höher, und als ich schon unweit des Gipfels bin, höre ich eine Stimme: Laßt ihn, er ist noch nicht bereit. Man ließ mich fallen, und ich flog herab. In diesem Moment öffnete ich die Augen und kam wieder zu Bewußtsein. Seit jener Zeit ging mir die gehörte Stimme "er ist noch nicht bereit!" nicht mehr aus dem Kopf, und ich wartete immer auf etwas. 

Nach Deutschland zurückgekehrt, machte er in Karlsruhe halt, und hier traf er einen Bekannten, Baron Hügel, der ihn in die Gesellschaft von Pietisten einführte. Hier wurde ihm das Wort Gottes eröffnet, er wurde plötzlich neugeboren und wurde zu einem feurigen Christen. Ich erinnere mich an eine unserer häufigen Unterhaltungen über dieses Thema. 

– Jetzt, – sagte er, – bin ich glücklich in der Liebe zu meinem Heiland. Jedes Wort Seines Evangeliums ist mir heilig. Um eines nur bitte ich Ihn Tag und Nacht, dass Er mir nicht die Versuchung schickt, meine Wange dem hinzuhalten, der mich auf die andere geschlagen hat. Hier fühle ich, dass ich mit meinem alten Menschen nicht zurechtkomme und nicht aushalte, ohne den Beleidiger zum Duell aufzufordern!

Doch Gott bewahrte ihn vor dieser Versuchung, und er starb einen stillen christlichen Tod, nachdem er nach Russland zurückgekehrt war. Seine würdige Gattin, die von Natur aus sanft und demütig war, war die Wegbegleiterin seines Lebens bis zu seinem Tod, nach dem sie sich dem christlichen Dienst am Nächsten widmete, und sie ist bis heute (1883) Oberin einer Gemeinschaft von barmherzigen Schwestern, die unter dem Namen der Heiligen Dreifaltigkeit bekannt ist.

 


Begegnung mit dem Großherzog von Baden, der Tod seiner Frau

1849 verbrachten wir den ganzen Sommer in Soden, einem kleinen Ort in der Nähe Frankfurts, der damals den Frankfurter Finanzleuten zum Sommeraufenthalt diente, jetzt aber zu einem Kurort von fast gleicher Bedeutung wie Ems geworden ist. Ich erinnere mich, wie wir noch durch das Dorf liefen und die 18 Quellen mit Sodener Mineralwasser suchten. Und jetzt ist dort ein Kursaal und prächtige Restaurants. Die Sodener Luft hatte eine erstaunlich belebende Wirkung auf meine kranke Frau, und als wir schon im September nach Wiesbaden umziehen mussten, nahm sie, gleichsam ihr bevorstehendes Ende vorausfühlend, fast in Tränen von dem dörflichen Haus Abschied, in dem wir den ganzen Sommer verbracht hatten. Im Winter in Wiesbaden ging es ihr sehr schlecht, und als der Frühling 1850 einsetzte, nahm ihre Brustkrankheit eine solche Wende, dass wir ihre Mutter aus Petersburg herbeiriefen. Es wurde Juni, und unsere Kranke forderte eindringlich, nach Ems oder Soden gebracht zu werden. Der Arzt, der das nahende Ende deutlich voraussah, verzögerte die Einwilligung zur Abreise von Tag zu Tag. Und da erhalte ich plötzlich aus Baden die Einladung, dorthin zu einer Taufe bei Benkendorf zu kommen, der mit einer Benadaki verheiratet war. Mein erster Gedanke war, diese Einladung angesichts der gefährlichen Situation meiner Frau auszuschlagen, doch der Arzt beruhigte mich in der Überzeugung, dass zwei-drei Tage meiner Abwesenheit keine Bedeutung haben würden, und dass dies im Gegenteil als neuer Vorwand zur Verzögerung der Ausführung des krankhaften Wunsches, nach Ems oder Soden zu fahren, dienen würde. Ich machte mich auf die Reise, nachdem ich zuvor nach Baden geschrieben hatte, dass ich angesichts der gefährlichen Lage meiner Frau bitte, die Taufe am Tage meiner Ankunft durchzuführen, um am folgenden Tag zu meiner Kranken zurückkehren zu können. Doch dort erfuhr ich, dass die Taufe mit aufwendiger Feierlichkeit begangen werden sollte, da der Großherzog von Baden versprochen hatte, persönlich Taufpate zu sein, und dass man deshalb ohne Verletzung des Anstands die Taufe nicht beschleunigen könne. Wie es immer bei hochgestellten Persönlichkeiten eintritt, konnte der Großherzog weder morgen noch übermorgen an der Taufe teilnehmen, sondern erst am dritten Tag. Meine Verzweiflung ob dieser Angelegenheit war vollständig. Einerseits war das Pflichtgefühl, andererseits jede Minute die Furcht um das Leben meiner sterbenden Frau. 

Hier machte ich zuerst die Bekanntschaft der Fürstin Gortschakow, der Gattin unseres damaligen Gesandten in Stuttgart. An sie wandte ich mich mit meinem Kummer. Die Fürstin hatte ein zartes Herz und konnte deshalb trösten und in jenen schweren Tagen meine nachlassende Kraft stärken. Heute könnte man sagen, warum sollte man nicht abfahren und bitten, dass man einen anderen Priester nach Baden ruft. Doch damals waren außer der Wiesbadener unsere nächstgelegenen Kirchen in Stuttgart und Weimar. Ohne Telegraphen und größtenteils ohne Eisenbahn bedeutete dies, dass man dem Priester schreiben und ihn erwarten musste, wozu man mindestens eine Woche Zeit brauchte, aber der Großherzog hatte schon den Tag seiner Ankunft zur Teilnahme an der Taufe in Baden mitgeteilt. Und nun sagte ich mir im Innern: “die Pflicht geht vor”, und wartete die drei Tage mit blutendem Herzen in Baden. An dem vereinbarten Tag versammelten sich unsere Russen im Hause Benkendorfs in vollem Schmuck, auch der Großherzog erschien, und es begann die Taufe des schon halbjährigen Kindes. Zuvor führte ich eine lange Unterhaltung mit den Eltern über den Namen des Täuflings. Sie wollten ihn zu Ehren des hohen Paten Leopold nennen, doch da dieser Name in unseren Heiligenlisten nicht existiert, suchten wir nach einem ähnlich klingenden Namen und einigten uns auf Leonid. Ich weiß nicht, ob der Großherzog in diesem Namen seinen eigenen erkennen konnte, aber man teilte ihm mit, dass, der Täufling seinen Namen tragen werde. Nach Beendigung des Taufritus, als man die Glückwünsche mit Sekt begann, trat der Großherzog zu mir und begann mit mir zu sprechen. Er fragte mich über die Bedeutung der Handlungen bei der Taufe aus, ging dann überhaupt zu den Dogmen der Orthodoxen Kirche über und entspann ein solches Gespräch mit mir, dass er gar nicht bemerkte, dass die gesamte übrige Gesellschaft mit dem Sekt in der Hand schon lange darauf wartete, dass er sich an sie wenden würde. Schließlich musste sein Hofmarschall zu ihm treten und ihn daran erinnern, dass alle Anwesenden erwarteten, dass er sich zu ihnen wandte. Erst dann drückte er mir die Hand und versicherte mir, dass er sich über die Bekanntschaft mit mir sehr gefreut habe. Wenn dieser gute Großherzog damals gewußt hätte, wie diese seine gnädige Aufmerksamkeit mir gegenüber in der Folge dazu führte, dass ich der Religionslehrer und geistliche Vater seiner damals noch 11-jährigen Tochter, der Prinzessin Cäcilie werden würde, die später die Großfürstin Olga Feodorowna wurde. Doch so verbinden sich die Schicksale der Menschen über weite Entfernung im Leben, unmerklich und unerwartet für sie selbst nach einem von der Vorsehung vorgezeichneten Programm.

Nachdem ich meine seelsorgerliche Tätigkeit abgeschlossen hatte, begab ich mich am nächsten Morgen auf die Reise nach Wiesbaden, begleitet von guten Wünschen für alles, was mich zu Hause erwarten würde. Zu der Zeit gab es von Baden nach Wiesbaden bereits eine Eisenbahnstrecke, und ich brauchte acht Stunden für die Fahrt nach Hause und die Lösung meines Schicksals. Ich erinnere mich nicht, wie ich diese qualvollen acht Stunden im Zug verbrachte, ich weiß nur, dass ich weder Städte noch Bahnhöfe sah, die an mir vorbeiflogen, und in Wiesbaden angekommen, empfand ich alles als fremd, was mir ansonsten in meinem Wiesbaden vertraut und früher lieb war. Am Bahnhof holte mich mein alter deutscher Bekannter ab, der 70-jährige Stein. Aus irgendeinem Grund setzte er mich in eine Kutsche, obwohl unsere Wohnung nur wenige Schritte vom Bahnhof entfernt war. In der Kutsche nahm der Greis meine Hand und sagte mir mit Gefühl: 

“Mein Freund! Ich habe mich schon öfters in einer solchen Lage befunden!”

Er war dreimal verheiratet.

Darauf konnte ich nur fragen: Wann denn? 

“Gestern morgen!”

In diesem Moment fuhren wir am Haus vor, ich sprang aus der Kutsche, stürmte die Treppe hinauf, öffnete die Tür zum Saal und sah eine Menschenmenge. Ich erkannte nur das Gesicht meiner Schwiegermutter, warf mich vor ihr auf die Knie, umarmte sie und weinte, weinte und hörte von ihr nur die Worte: "Weine, weine, mein Sohn, davon wird dir leichter!" – Meine Kinder waren zu klein, um den Kummer des Vaters und den Verlust der Mutter zu verstehen. Der Älteste war fünf, der Jüngste erst drei Jahre alt. Zum Begräbnis meiner verstorbenen Frau kam der Erzpriester Sabinin aus Weimar. 

Damals erhielt ich von allen Seiten Beileidsbezeugungen, doch die wärmste und mit herzlichen Worten des Trostes ausgesprochene enthielt der Brief von der Fürstin Gortschakow aus Baden. Sie lud mich ein, mit den Kindern zu ihr nach Baden zu kommen und versprach mütterliche Sorge um meine Kleinen. Und wirklich, als ich später nach Stuttgart versetzt wurde, war sie nicht selten eine liebende Mutter für meine Kinder. Doch zu diesem Zeitpunkt konnte ich ihre Einladung nicht annehmen. Ich entSchloss mich nach Russland zu reisen, sogar für immer. Doch auch dies konnte ich nicht sofort durchführen, da bekannt wurde, dass die Großfürstin Helena Pavlowna nach Wiesbaden kommt, die seit dem Tod ihrer Tochter noch nicht deren Grab besucht hatte. In der Erwartung ihrer Ankunft suchte ich eine Erzieherin für meine Waisen. Es gelang mir, sie in der Person einer Französin, die schon in zwei Familien die Kinder erzogen hatte, in Wiesbaden selbst zu finden. So verbreitete sich in meiner Familie die französische Sprache, die zusammen mit dem Anblick dieser Person, die mir ständig meinen unwiederbringlichen Verlust in Erinnerung brachte, in meiner Seele eine solche Leere und Mangel alles eigenen, Gewohnten, hervorrief, dass ich, wenn ich sie nicht haßte, so doch diese Gouvernante nicht ansehen konnte, die übrigens ihr ganzes Leben meiner Familie widmete, da sie nach der Erziehung meiner Söhne auch meine Enkel erzog und noch jetzt als Wirtschafterin in meinem leeren Haus tätig ist. Wie sündig ein solches Gefühl gegenüber dieser Person auch sein mag, doch es hält bis jetzt an. Sie blieb für mich ein lebendiges Denkmal der Zerrüttung meines Familienlebens, zumal sie für mich in gewisser Weise ein Schirm für meine Kinder wurde. Von diesem Zeitpunkt an kehrte ich mich in mich und kam lange nicht aus dieser inneren Vereinsamung heraus.

 


Verpflichtungen und Reisen in die Umgebung

Nun begleitete ich meine Schwiegermutter, die nach Petersburg zurückkehrte, um dort meine Ankunft mit den Kindern zu erwarten. Zum Ende des Sommers kam die Großfürstin Helena Pawlowna nach Wiesbaden und wollte eine Panichida am Grab ihrer Tochter hören. Damals befand sich der Leichnam der Großfürstin in der städtischen katholischen Kirche. Da sofort nach ihrem Tode beschlossen wurde, in Wiesbaden eine russische Kirche zu bauen, wo der Sarg mit der Verstorbenen ewige Ruhe finden sollte, wurde vorläufig ein Platz in der evangelischen Kirche geschaffen, wo wir unter der Orgel Panichiden halten konnten. Doch diese Kirche wurde in Folge der Unaufmerksamkeit von Arbeitern, die zur Ausbesserung des Daches unmittelbar unter der Kuppel ein Feuer entzündeten, bei hellichtem Tage ein Opfer der Flammen, die sie in weniger als einer Stunde völlig zerstörten. Den Sarg der Großfürstin konnte man nur mit Mühe aus der schon brennenden Kirche heraustragen, und in die katholische Kirche überführen. Hier wurde ebenfalls ein Raum in der Nähe des Altars eingerichtet, an dem wir genauso frei Panichiden halten konnten. Hierher kam auch die Großfürstin Helena Pawlowna. Sie wurde am Eingang zur Kirche von dem katholischen Priester begrüßt, der auch bei unserer Panichida zugegen war. Nach der Panichida wandte sich die Großfürstin zu mir mit den Worten: “Wie froh bin ich, dass der Körper meiner Tochter jetzt in der katholischen Kirche ruht, und nicht bei den Protestanten, die unsere Gebete für die Verstorbenen nicht verstehen, und nicht anerkennen!” Ich verneigte mich und dachte: “Gut, dass der katholische Pater nicht versteht, was die Großfürstin sagt, die selbst von Haus aus Protestantin war. Sonst würde er das mit Schadenfreude einem Protestanten erzählen und es würde bis zum Herzog gelangen.” Wie groß war meine Verwunderung, als die Großfürstin sich an den bei uns stehenden Katholiken wandte, und das selbst auf Deutsch wiederholte! In der Folge erhielt ich, als ich mich vor der Abreise nach Russland von dem örtlichen protestantischen Bischof verabschiedete, in schärfstem Ton den Auftrag, die Großfürstin Helena Pawlowna daran zu erinnern, dass der Körper ihrer Tochter einige Jahre in der evangelischen Kirche geruht hatte, dass diese Kirche abgebrannt war, und dass man jetzt mit freiwilligen Spenden eine neue Kirche baut. Ich weiß nicht, ob die Großfürstin daraufhin etwas für den Bau der evangelischen Kirche spendete, aber für die katholische Kirche hinterlegte sie bei dem Besuch des Sarges ihrer Tochter eine namhafte Spende.”...

 

Nach meiner Rückkehr aus Russland wurde ich in Wiesbaden mit Anteilnahme und Freude sowohl von meinen Gemeindemitgliedern als auch meinen Vorgesetzten in der Frankfurter Gesandtschaft begrüßt, wo jetzt neben meinem guten Freund D.G. Glinka ein neuer Vorgesetzter in Person des Fürsten A.M. Gortschakow hinzugekommen war, welcher neben seinem Posten in Stuttgart gleichzeitig zum Deutschen Bund in Frankfurt kommandiert war. Wieder begannen die Verpflichtungen und Reisen in die Umgebung. So wurde ich unter anderem eingeladen, mit dem übrigen Klerus nach Baden-Baden zu der Großfürstin Maria Nikolajewna zu kommen. Es war am 6. August, ihrem Geburtstag, und wir fuhren tags zuvor mit der Eisenbahn los. In Karlsruhe angelangt, erfuhren wir jedoch, dass wir nicht weiterfahren konnten, da der starke Regen am Vortag die Brücken zerstört und die Eisenbahngleise beschädigt hatte. So beschlossen wir, auf Rädern nach Baden-Baden zu fahren. Man gab uns dazu einen Omnibus, denn wir waren zu sechst, und wir fuhren los. Als wir uns jedoch Baden näherten, hörten wir, dass es keinerlei Möglichkeit gab, dort hinzugelangen, da im Oostal alle Brücken zerstört und beschädigt waren. Was sollten wir nun tun? Für uns war das Wichtigste, zu dem Festtag anzukommen; sonst hätten wir zurückfahren müssen. Da sagte uns jemand, dass es noch eine Möglichkeit gibt, über die Berge nach Baden zu kommen, und wir nahmen gleich die Kutschen und kamen über den Berg Merkur spät nachts und glücklich in der Stadt an. Unsere heroische Reise wurde mit Anerkennung belohnt, und wir wurden von Ihrer Hoheit reichlich entgolten. Fürst Gortschakow schickte uns eine finanzielle Belohnung für den Chor und fügte hinzu, dass “es Ihrer Kaiserlichen Hoheit gefiel, mir als Zeichen Ihrer persönlichen Aufmerksamkeit einen Brillantring zu schenken”. Dies war die zweite Auszeichnung in Form von Brillanten, die ich von fürstlichen Personen erhielt. Die erste bestand aus einem Kreuz mit wertvollen Steinen, das ich nach dem Tod der Großfürstin Elisabeth Michailowna von dem Großfürsten Michail Pawlowitsch in Erinnerung an meinen Dienst bei Ihrer Hoheit erhielt. Später ergossen sich diese wertvollen Auszeichnungen häufig wie ein ganzer Regen über mich, und wenn ich alles aufgehoben hätte, so würde dies ein bemerkenswertes Kapital darstellen. Doch ich konnte Geld nicht anhäufen, und fühlte mich nicht im Stande, bei besonderen Anlässen Hilfe zu erbitten, sondern verwandelte diese Dinge in Geld und verwandte sie für meine Bedürfnisse. So kostete mich zum Beispiel jede meiner Reisen nach Russland ein Brillantkreuz, und einige der für diese Geschenke angesammelten Summen zerflossen in den Händen mir nahestehender Menschen, denen ich sie zur Aufbewahrung anvertraut hatte.

 


Versetzung nach Stuttgart

Vorstellung bei der Großfürstin Olga Nikolajewna

Bevor ich noch nach Wiesbaden zurückkehrte, erreichten mich von allen Seiten Gerüchte, dass man es in Stuttgart auf mich abgesehen habe, wo der überalterte und schon lange im Ausland weilende Erzpriester Pewnitzkij seinen Dienst aufgeben muss. Ihn hatte ich ein Jahr zuvor in Stuttgart kennen gelernt, als mein Freund Glinka, der mir unbedingt eine Gelegenheit verschaffen wollte, Stuttgart zu besuchen, irgendeinen Kurierdienst für den Fürsten Gortschakow erdachte, und mich auf Staatskosten dorthin entsandte. Ich erinnere mich, dass Vater Pewnitzkij damals den seltsamen Eindruck eines Dorfpfarrers auf mich machte. Er musste viele Jahre auf dem Berg Rothenberg verbringen, wo die Grabkirche der württembergischen Königin Katherina Pawlowna steht. Hier lebte er in völliger Einsamkeit, hatte keinerlei Verbindung zu Russen, außer seinen zwei Psalmisten, die mit ihm im gleichen Haus wohnten, und nach damaligem Brauch keinerlei Bildung besaßen; so war er völlig verwildert. Die einzige Gesellschaft, in der er viele Jahre hindurch verkehrte, waren die benachbarten Dorfpastoren, und da Rothenberg zwischen Weinbergen liegt, war es nicht verwunderlich, dass ihre Gespräche durch das Produkt der Weintraube belebt wurden, und dieser Brauch täglicher Trinkgelage schwächte den armen Greis so sehr, dass ihm schließlich zwei Gläser Wein genügten, um ihn in völlige Trunkenheit zu versetzen. Als ich zu ihm kam, lebte er schon in der Stadt, wohin er seit dem Dienstantritt des Fürsten Gortschakow als Gesandter übergesiedelt war, da dieser angesichts der äußersten Unannehmlichkeit von Fahrten von zehn Meilen zur Kirche auf den Rothenberg bei der Regierung die Einrichtung einer Hauskirche bei der Gesandtschaft durchgesetzt hatte. Da er sein Dorfleben auf dem Rothenberg lieb gewonnen hatte, fuhr er mit mir am gleichen Tage dorthin, und wir übernachteten dort.

Ich erinnere mich, mit welcher Begeisterung ich in dem mir zugewiesenen Zimmer schlafen ging. Es war eine Mondnacht. Durch das offene Fenster sah ich unten das im Grün und in Gärten ertrinkende Dorf Löbach. Darüber erhoben sich in der Ferne die Berge der Schwäbischen Alb. Rundum Stille; irgendwo in der Nähe sang eine Berglerche, die Luft war vom Aroma blühender Bäume gesättigt, das von einem unterhalb liegenden Hain von Fruchtbäumen aufstieg. Es war im Mai, und ich schaute lange aus dem Fenster, da ich mich von diesem begeisterungswürdigen Anblick nicht losreißen konnte. Doch mir kam es nicht in den Kopf, dass all diese Pracht in einem oder anderthalb Jahren mir nicht nur für einen Abend, sondern für viele und lange Jahre zum Genuss gereichen würde.

In Stuttgart blieb ich zwei Tage, und hatte das Glück, Ihrer Kaiserlichen Hoheit, der Großfürstin Olga Nikolajewna vorgestellt zu werden, ohne auch nur im geringsten daran zu denken, dass es mir beschieden sein würde, ihr zu dienen. Übrigens übte Stuttgart im Vergleich zu Wiesbaden auf mich den Eindruck irgendeines dunklen Winkels aus, in den man nur durch Zufall gelangen konnte, während Wiesbaden und seine Umgebung die große Straße darstellte, auf der Verkehr und Licht und immer Gesellschaft war. Als mir daher zu Ohren kam, dass mir eventuell der Wechsel nach Stuttgart als neuem Dienstort bevorstünde, wollte ich davon nichts hören, umso mehr als ich die feste Absicht hatte, in zwei Jahren nach Russland zurückzukehren. Indessen begann mein Schwiegervater, der in Petersburg von dieser Sache gehört hatte, mich zu überreden, Stuttgart nicht auszuschlagen, wofür er unter einer Reihe von Gründen für diesen jedenfalls für mich ehrenvollen Dienstort auch den anführte, dass es für meine kleinen Kinder vorteilhaft sein würde, wenn sie wenigstens noch vier Jahre im Ausland in gutem Klima lebten. Ich antwortete darauf, dass ich meinen Wunsch, irgend wohin überzusiedeln nicht aussprechen werde, doch wenn es Gott und meinen Vorgesetzten angebracht erscheint, mich irgend wohin zu versetzten so würde ich nicht protestieren und mich nicht widersetzen. Als ich so antwortete, wusste ich noch nicht, dass die Großfürstin Olga Nikolajewna bereits die Absicht hatte, mich zu versetzen, und dass dieser Wunsch schon dem Zaren Nikolaus unterbreitet worden war. Für mich wäre es natürlich sowohl schmeichelhaft, als auch leicht gewesen, diesem Willen zu gehorchen, wenn die Ernennung gegen meinen Willen geschehen wäre. 

Die Großfürstin machte in ihrer Herzensgüte meine eigene Zustimmung zur Bedingung meines Übertritts in ihre Dienste, und so wurde ich in äußerste Schwierigkeit gebracht. Mein Schwiegervater schrieb, dass V. B. Baschanow von mir ein schriftliches Gesuch um Versetzung nach Stuttgart forderte. Ich lehnte dies entschieden ab, da dies einerseits gegen mein Gewissen verstieß, weil ich diese Versetzung nicht erstrebte, andererseits gegen meine Bescheidenheit, weil ich mich nicht befugt erachtete, mich um den Posten des geistlichen Vaters einer fürstlichen Person zu bewerben. Deshalb gab ich diese Antwort auch Baschanow, und fügte hinzu, dass ich mich, wenn dies geschehen sollte, dem Willen des Herrschers fügen würde, und diesen Posten in Demut als eine Weisung vom Himmel annehmen würde. Doch mit dieser Antwort gab man sich in Petersburg nicht zufrieden; man forderte von mir einen neuen Brief, den man der Großfürstin Nikolajewna zeigen konnte, die sich damals in Petersburg aufhielt. Hiergegen lehnte ich mich mit all meinem jugendlichen Eifer auf, und zerstritt mich fast mit meinem Schwiegervater, der mich des Stolzes und der Sturheit zieh, mir mit dem Zorn von Baschanow drohte und mir zuredete, mir meine Karriere nicht zu verderben. Mein letztes Wort war, dass ich mich dem Willen meiner Vorgesetzten unterordne, und in Demut den mir angetragenen hohen Posten annehme, aber selbst diesen Posten nicht erbitten werde. So hatte ich mich schon beruhigt, als ich bereits im September des selben Jahres 1851 von meinem Schwiegervater  Kotschetow einen Brief erhielt, in dem er schreibt:

“Was geschehen soll, ist nicht zu vermeiden. Das Schicksal Gottes ist unumgänglich. Es ist weise und gütig. Es ist eine heilige und beruhigende Sache, sich diesem Schicksal anzuvertrauen, und sich ihm demütig zu fügen. Diesen Gehorsam gegenüber dem Göttlichen Willen haben Sie sich in der Frage des Wechsels ihres Dienstortes zur Regel und zur Grundlage gemacht, und Sie haben Recht gehandelt. Gott fügte das, was er nach seiner Güte für Sie von Nöten und nützlich erfand. In Moskau legte Er dem Zaren ans Herz, Sie als geistlichen Vater Ihrer Kaiserlichen Hoheit der Großfürstin Olga Nikolajewna, zu berufen. Ich gratuliere Ihnen zum neuen Amt. Ich kann nicht umhin, mich über die Ehre zu freuen, die Ihnen zuteil wird; am meisten freue ich mich aber darüber, dass Sie vor dem Angesicht der Frau zelebrieren werden, die klug und gütig wie ein Engel ist, fromm wie eine wahre Christin. In ihrem Dienst werden Sie sich aus eigener Erfahrung von der Gerechtigkeit des alten Ausspruches überzeugen: Si vis esse pius, fugito aulam.” Auf diese Weise war mein Schicksal beschlossen.

 


Entführung aus Wiesbaden

Doch meine Übersiedlung von Wiesbaden nach Stuttgart konnte nicht so schnell vonstatten gehen. Sowohl die Fürstin Gortschakow als auch Glinka benachrichtigten mich hiervon, aber eine offizielle Verlautbarung war zu dieser Angelegenheit noch nicht eingetroffen, und ich befand mich von einem Tag zum andern in einer misslichen Lage vor dem Nassauischen Herzog, der von meiner bevorstehenden Versetzung noch nichts wusste. Plötzlich erhalte ich im Oktober aus Frankfurt eine Benachrichtigung von Glinka, dass er vom Sekretär der Großfürstin, Adelung, einen Brief erhalten habe, in dem dieser ihm den Wunsch Ihrer Hoheit mitteilt, dass ich unverzüglich zur Übernahme der Kirche von Vater Pewnitzkij, welcher dieser Tage nach Russland abreist, nach Stuttgart kommen solle. Es war nichts zu ändern, ich musste mich beim Herzog melden, und wenn auch noch nicht vollständig Abschied nehmen, so doch zumindest von meinem bevorstehenden Wechsel an einen neuen Ort berichten. Doch hier geschah eine Szene, die ich überhaupt nicht erwartete. Der Herzog nahm diese Nachricht mit solcher Erregung und Ungehaltenheit auf, dass ich Furcht bekam.

“Wie",  sagte er, "man nimmt mir meinen letzten Trost, der mir nach dem Tod meiner armen Frau geblieben ist! Sie waren ihr geistlicher Vater! Sie waren mit mir bei ihren letzten Zügen anwesend! Und Sie will man mir nehmen!” Dabei ergoss sich der arme Herzog in Tränen.

“Nein", fuhr er fort, "halten Sie ein. Ich werde alles unternehmen, um das zu verhindern. Ich werde an den Zaren schreiben, ich schreibe an Olga Nikolajewna, aber Sie lasse ich nicht gehen.”

So fuhr ich nach Stuttgart, aber zunächst nur vorübergehend, zur Übernahme der Kirche, wonach ich nach Wiesbaden zurückkehrte. Der Herzog begann tatsächlich, seine Drohungen auszuführen, und ich verblieb in Erwartung dessen, wie dieser Streit um mich enden würde, als eines schönen Novembertages aus Stuttgart der Sekretär der Olga Nikolajewna, N.F. Adelung, kam, ein sehr kluger und energischer Mensch, sich zum Herzog begab und mit ihm den Kampf aufnahm, in dessen Verlauf er bewies, dass meine Versetzung bereits durch kaiserlichen Beschluss entschieden war, den man nicht verändern könne. Und als der Herzog zu klagen begann, dass man an meiner Stelle irgendeinen Priester schicken wird, der ohne Kenntnis all dessen, was mit seiner verstorbenen Gattin bei ihrem Tod und Begräbnis geschah, die Gebete für ihre Seelenruhe wie ein Papagei lesen wird, machte sich Adelung zur Verteidigung der russischen Kirche und Geistlichkeit stark, und wies den Herzog darauf hin, dass es unter den russischen Priestern keine Papageien gibt, und dass jeder Priester, der an meiner Stelle geschickt wird, mit gleichem Eifer am Sarg seiner verstorbenen Gattin beten wird. Ich weiß nicht, wieweit Adelung einen Sieg über den Herzog davontrug, da er jedoch sofort bei mir mit der Forderung erschien, unverzüglich mit ihm nach Stuttgart zu reisen, konnte ich schließen, dass er sich um den Erfolg seines Sieges noch sorgte. Ich musste schnellstens meine Kinder vorbereiten, und meine Wohnung der Sorge von Bekannten überlassen, um unverzüglich nach Stuttgart umzuziehen. Auf diese Weise wurde ich sozusagen aus Wiesbaden entführt, und fuhr ab, ohne mich wenigstens von dem Herzog verabschiedet zu haben. Dies war am 1. (13.) November 1851.

 


Stuttgart, pastorale Pflichten als Priester, neue Pflichten als Hofpriester

Mit meinem Wechsel nach Stuttgart beginnt ein neuer Abschnitt meines Lebens, sowohl äußerlich als auch innerlich. Hier traf ich auf ein völlig anderes Milieu als in Wiesbaden. Dort war ich, kann man sagen, Gemeindepfarrer. Meine Beziehungen zu meinen Landsleuten waren äußerst mannigfaltiger Art. Da es in Wiesbaden keinen russischen Vertreter gibt, muss der dortige Priester fast konsularische Aufgaben übernehmen. In jedem Fall stellt er einen Mittelpunkt dar, um den sich nicht nur seine orthodoxen Landsleute scharen, und er muss die Verpflichtungen des Hausherrn für ankommende und durchreisende Russen erfüllen, die sich sogar mit solchen Bitten an ihn wenden wie der Hilfe bei der Wohnungssuche, der Suche nach gutem Dienstpersonal u.ä. In Stuttgart hörte das alles auf. Hier gibt es eine Gesandtschaft, doch durchreisende Russen gibt es nicht. Auf diese Weise beschränkt sich das Aufgabengebiet des Priesters hier auf die engen Grenzen der Erfüllung seiner pastoralen Pflichten. Außerdem erlegt ihm die Position des Hofpriesters neue Pflichten auf, die sich ganz wesentlich von der Position des gewöhnlichen Auslandspriesters unterscheiden. Ich musste das sofort zu Beginn erfahren und mir diese Lehre für mein übriges Leben und Tätigkeit am neuen Ort zu Herzen nehmen. Als ich kaum nach Stuttgart umgezogen, oder besser gesagt, überführt war, ereignete sich ein mir zunächst überhaupt nicht verständlicher, doch dann aufklärender Umstand. Zum ersten Mal war ich im Hotel abgestiegen und aß am nächsten Tag mit meinen Kindern am gemeinsamen Tisch, wo ich mich in ein Gespräch mit meinem Nachbarn einließ, einem mir völlig unbekannten Herrn, der mich über Wiesbaden ausfragte und über meinen Wechsel nach Stuttgart. Am folgenden Tag ruft mich die Fürstin Gortschakow zu sich und sagt mir:

– Sie unterhielten sich gestern mit einem Herrn am Tisch und sagten dies und das.

Mich verwunderte entsetzlich, wie mein Gespräch der Frau des Gesandten zu Gehör kommen konnte. Darauf antwortet sie:

– Ich rate Ihnen, hier außerordentlich vorsichtig in der Wahl Ihrer Bekanntschaften zu sein. Nicht das ist wichtig, was Sie über dies oder jenes sagten, sondern das wichtigste ist, dass Sie mit diesem Herrn sprachen. Ich muss Sie warnen, dass es hier zwei Parteien am Hofe gibt, eine vom großen und eine vom kleinen, zu dem Ihre Großfürstin gehört. Der Herr, mit dem Sie Bekanntschaft schlossen, gehört zur ersten Partei, als deren Mittelpunkt der Salon der Maitresse des alten Königs dient. Er erzählte gestern in diesem Salon, dass er den neuen Geistlichen der Großfürstin kennen gelernt hat, und das allein kann schon einen unangenehmen Schatten auf Sie werfen. Deshalb bitte ich Sie, hier vorsichtiger in der Wahl der Bekanntschaften zu sein.

 

Dies war eine völlig neue Lehre für mich, und ich zog meine Konsequenzen daraus, indem ich meinen Bekanntschaftskreis auf die kleine Schar von Russen beschränkte. Doch auch hier stieß ich bald auf eine Lehre, die für mich noch bedeutender war. Ich bezog eine Wohnung gegenüber der Wohnung des Sekretärs unserer Botschaft, des Fürsten Schtscherbatow. Seine junge Gattin gewann meine Kinder so lieb, dass sie sie dauernd zu sich zum Spielen in den Garten einlud. Mit ihnen war auch ich häufig in dieser gastfreundlichen und gütigen Familie, und da ihr Haus oft von Gästen gefüllt wurde, fiel es auch mir zu, an ihren Salongesprächen teilzunehmen. Einmal geschah es, dass man irgendeinen öffentlichen Skandal besprach, über den auch ich meine Meinung abgeben musste. Eine der Hofdamen, die an diesem Gespräch teilnahmen, nahm meine Worte auf, legte sie in ihrer Weise aus, überbrachte mein Urteil dem Hof, und hier begann das Gerede. Obwohl die Fürstin Schtscherbatow sich für mich einsetzte und dieser Dame erklärte, dass sie ihre Türen für alle außer mir als ihrem geistlichen Vater völlig schließen werde, wenn diese es noch einmal wagen würde, meine Worte zu zitieren, die sie in ihrem Salon mitgehört hatte, so zwang mich dieser Vorfall doch dazu, mich in meinem Arbeitszimmer einzuschließen und mich noch tiefer in mich selbst zurückzuziehen. Wenn das auch etwas beängstigend für mich war, so brachte es doch seinen Nutzen. Ich begann zu lesen und beschloss zu schreiben ...

 

... Hier stand ich ausschließlich im Dienst der Großfürstin. Außer den Angehörigen der Gesandtschaft, die aus dem Gesandten, dem Fürsten A.M. Gortschakow, bestand, dem Ersten Sekretär Stofrengen und dem zweiten Sekretär, dem Fürsten Schtscherbatow, waren hier keine Russen. Doch ungeachtet dessen war mein Dienst nicht leicht, besonders in der Großen Fastenzeit. Die Großfürstin fastete und bereitete sich in der ersten Woche auf den Empfang der Heiligen Gaben vor, und die Gottesdienste wurden in ihren inneren Gemächern durchgeführt. Beginnend am Montag um 9 Uhr wurde der Morgengottesdienst und die Stunden durchgeführt, mittwochs und freitags die Liturgie der Vorgeweihten Gaben, und abends der Große Kanon um 7 Uhr. Nach den Stunden musste ich der Großfürstin, die sich in dieser Zeit mit Modellierarbeiten beschäftigte, etwas vorlesen. Bei der Lektüre begannen wir häufig ein Gespräch über das Gelesene, und mich erstaunte in immer stärkerem Maße die hohe religiöse Bildung der Großfürstin, so dass ich mich auf diese Lektüre vorbereiten musste, um nicht von der einen oder anderen Frage oder Bemerkung, die die Großfürstin während der Lektüre machte, überrumpelt zu werden. Das erfüllte mein Leben so sehr, dass ich in meinem neuen Aufgabenbereich den höheren Sinn meines Lebens zu erblicken begann. Aber ich würde nicht sagen, dass ich damals meine endgültige Bestimmung zu diesem Ziel erkannte. Im Gegenteil, da man mir bei meiner Versetzung nach Stuttgart sagte, dass zwei Dienstjahre an diesem Ort auch für meine Kinder wegen des Klimas nützlich sein werden, betrachtete ich meinen Dienst als vorübergehend, denn ich wollte bald nach Russland zurückkehren. Deshalb hauste ich in meiner engen und ungemütlichen Wohnung wie in einer Manöverunterkunft, ohne mich auf einen längeren Aufenthalt einzurichten. Tatsächlich nahm ich jedoch schon bei Beginn meines Dienstes in Stuttgart eine andere ernsthafte Tätigkeit in der Familie des Fürsten Gortschakow wahr – das Erteilen von Religionsunterricht an seine Kinder. Doch auch hier sah ich noch nicht, dass ich in Kürze nicht nur mit den Kindern, sondern ebenso mit dem Fürsten durch die Bande christlichen und dabei herzlichen Mitgefühls aus Anlass des Todes seiner Gattin verbunden würde. Vorläufig waren meine Beziehungen zum Haus des Gesandten äußerst freundlich seinerseits und äußerst eifrig meinerseits.

 

Außer der Gesandtschaft war in Stuttgart noch ein russisches Haus, in dem ich inmitten meiner Einsamkeit häufig Zuflucht fand. Das war die Familie des Sekretärs der Großfürstin, N.F. Adelung, mit dem ich von Anfang an schon deshalb Freundschaft Schloss, weil er mit meinem Vorgänger nicht auskam und dauernd Unannehmlichkeiten mit ihm hatte. Ungeachtet des deutschen Namens und des lutherischen Bekenntnisses war diese Familie rein russisch und zeichnete sich sowohl durch ihre Gastfreundschaft als auch besonders durch die gegenseitige Freundschaft und Liebe aller ihrer Mitglieder untereinander aus. Als wir unsere Freundschaft später vertieften, fand ich in dieser gütigen Familie nicht selten Trost und Rat in meinen dienstlichen Angelegenheiten. Daran erinnern mich viele Briefe des verstorbenen Nikolaj Feodorowitsch.

 

Meine Beziehungen zum Klerus waren sehr unbedeutend, da ich in Stuttgart zwei Kirchendiener der alten Schule vorfand, von denen der eine fast eingedeutscht war, während sich der andere nur durch die Größe seiner Familie auszeichnete. So antwortete er in meiner Gegenwart einmal anlässlich der Beglückwünschung zu einem Neugeborenen durch die Großfürstin auf ihre Frage, das wievielte das nun sei, mit einer Verbeugung und verkündete: "Das 24., Eure Hoheit!". Mir schien es von Anfang an ungeheuerlich, solche Kirchendiener bei hochgestellten Persönlichkeiten im Ausland zu unterhalten, deren man sich an Gemeindekirchen in Russland schämen würde. Deshalb begann ich daran zu denken, wie man diese nicht nur in Stuttgart, sondern überall im Ausland durch gebildete Leute ersetzen könnte, was mir dann auch gelang, als Fürst Gortschakow, der diesen Gedanken ebenfalls hegte, Außenminister wurde. 

 

1852 hatte ich zum ersten Mal die Gelegenheit, der Kaiserin Alexandra Feodorowna vorgestellt zu werden. Sie befand sich in Schlangenbad, und ich wurde von der Großfürstin Olga Nikolajewna dorthin gerufen, die sich ebenfalls dort aufhielt. Ich wusste nicht, wie ich bei ihr erscheinen sollte, in geistlicher oder weltlicher Kleidung, und nachdem ich dafür eine besondere Erlaubnis erhalten hatte, stellte ich mich im Frack vor. Bei meinem Erscheinen sprach mich die Kaiserin mit einem gnädigen Lächeln auf Deutsch an: Wie soll ich Sie empfangen – priesterlich oder menschlich? Und dann, als sie meinen Segen erhalten hatte, erkundigte sie sich gütig über meine Kinder, über meinen Dienst bei der Großfürstin. Meine Kinder befanden sich damals zur Kur in Kreuznach, wo ich sie besuchte. Doch zum 25. Juni, dem Geburtstag des Kaisers, wurde ich zum Gottesdienst nach Bad Ems beordert, wo sich zu der Zeit die Großfürstin Olga Nikolajewna aufhielt. Hier erhielt ich von der Kaiserin einen Brillantring nicht für den Gottesdienst, sondern als Zeichen ihres Wohlwollens.

 


Amtshandlungen: Kirche ohne Heimatrecht

An meinem neuen Platz in Stuttgart war meine pastorale Tätigkeit in der Gemeinde sehr begrenzt, da ich außer den Taufen bei dem kinderreichen Kirchendiener und einigen Sängern einige Jahre nacheinander überhaupt keine Eheschließungen und nur selten Beerdigungen vorzunehmen hatte, und selbst das mehr in Baden, wo in diesem Jahr V.A. Schukowskij und im Herbst Fürst Gagarin starben. Ich spreche nicht in Einzelheiten von dem Tode Schukowskijs, da ich davon seinerzeit in der "Zeitschrift des Erziehungsministeriums" berichtete. Doch ich kann eine Besonderheit bei seinem Begräbnis in Baden-Baden nicht verschweigen. Da die Königin Olga Nikolajewna hierzu geruhte, den gesamten Klerus der Stuttgarter Kirche zu entsenden, d.h. außer mir noch zwei Psalmisten und vier Sänger, beschlossen wir, den Sarg des Verstorbenen unter dem Gesang von "Heiliger Gott" im Ornat bis zum Friedhof zu begleiten. Doch dafür mussten wir um die Erlaubnis der örtlichen Behörden vorstellig werden, da unsere Kirche in allen deutschen Staaten kein Heimatrecht besitzt, und wir deshalb nicht nur kein Recht zu Straßen-Prozessionen besitzen, sondern nicht einmal öffentlich unsere geistliche Kleidung tragen dürfen. Infolgedessen begleiten die Priester bei Beerdigungen orthodoxer Personen im Ausland den Sarg bis zum Friedhof wohl im Ornat, aber in geschlossener Kutsche und zelebrieren nur am Grab im vollen Ornat eine Litia. In Baden-Baden wurde uns auf besondere Fürsprache des dortigen Gesandten und aus Ehrerbietung vor der Persönlichkeit Schukowskijs gestattet, den Sarg nach dem Brauch und der Zeremonie der Orthodoxen Kirche auf den Friedhof zu begleiten, aber nur unter der Bedingung, dass neben mir der dortige katholische Priester ging. Dagegen hatte ich natürlich nichts einzuwenden und wunderte mich sogar darüber, dass der katholische Priester an unserer kirchlichen Handlung teilnehmen würde. Doch meine Verwunderung wuchs, als ich beim Heraustragen des Körpers des Verstorbenen aus dem Haus neben mir eine Person in äußerst seltsamer Kleidung sah – in einem langen Mantel, mit einem Dreieck auf dem Kopf und einem langen Schleier, der sich auf seiner Kopfbedeckung entfaltete. Es zeigte sich, dass das tatsächlich der katholische Ortspfarrer war, der dabei keine kirchliche, sondern polizeiliche Pflichten versah und sich deshalb nicht in priesterliche Gewänder, sondern in den Anzug eines Trauer-Marschalls bei Beerdigungen gekleidet hatte.

Wie sich die Protestanten gegenüber unserem Zeremonial verhalten, dazu hatte ich in diesem Jahr bei der Taufe des Kindes des langjährigen Kammerdieners des verstorbenen Schukowskij, des berühmten Wasilij Koljanow, Gelegenheit meine Beobachtungen zu machen. Er hatte eine Deutsche geheiratet und wohnte mit ihr nach dem Tod des Dichters in dem Dorf Langen bei Darmstadt, wohin er mich auch einlud, um das Neugeborene zu taufen. Das Erscheinen eines russischen Priesters und die Taufe nach dem Ritus der Ostkirche war dort ein solch unerhörtes Ereignis, dass sich zu dieser Taufe eine große Volksmenge mit den örtlichen Honoratioren und dem Pfarrer an der Spitze versammelte. Sie alle wohnten der Taufe mit Ehrfurcht bei, und als ich fertig war, kamen alle zu mir mit der Bekundung ihrer Begeisterung ob des ungeahnten Anblicks. Besonders erstaunte mich der dortige Pastor, der, von der Altertümlichkeit des Ritus begeistert, sagte:

– Was mich an diesem Ritus besonders angenehm überraschte, das war das Beschneiden der Haare des Täuflings. Ich dachte mir dabei: Wirklich, was kann ein neu getauftes Glied der Kirche Christi Gott darbringen, wenn es nackt aus dem Taufbecken steigt, außer den Haaren auf seinem Haupt!

Dieser poetische Gedanke, der in dem protestantischen Pastor beim Nachdenken über unseren Ritus keimte, kommt natürlich keinem von uns in den Sinn, indessen spricht er so viel für sich. Solche frei gefügten Erklärungen für unsere Riten von Menschen, die mit unserer Liturgik nicht vertraut sind, erstaunen uns nicht selten dadurch, dass sie ganz unerwartet erscheinen. Ich erinnere mich, wie der Herzog von Nassau, der bei den Panichiden für seine verstorbene Gattin, die Großfürstin Elisabeth Michailowna, häufig zugegen war, einmal sagte, dass ihn dieser Ritus sehr rühre.

– Besonders, fügte er hinzu, – wenn Sie die Kerze löschen und sie auf den Tisch legen. Welch erstaunlich belehrendes Symbol, das uns deutlich zeigt, dass so auch das Leben eines jeden von uns ausgelöscht werden muss!

Einmal geschah es, dass ich in Stuttgart von der Polizei aus Ulm, einer Stadt, die drei Eisenbahnstunden von Stuttgart entfernt ist, die Nachricht erhielt, dass dort im städtischen Krankenhaus irgendein armer Serbe gestorben war, ein armer Handwerker. Die Stadt beschloss, ihn auf ihre Kosten zu beerdigen, und, da er orthodox war, bat man mich, die Beerdigung vorzunehmen. Ich fuhr natürlich dorthin und nahm einen Lektor mit, der damals der erste Kandidat der Petersburger Akademie war und natürlich mit der Theologie vollkommen vertraut war, aber weder die kirchliche Gottesdienstordnung noch den Gesang kannte. Doch wie groß war meine Verwunderung, als ich nach Ulm kam und sah, dass die ganze Stadt auf den Beinen war. Die Nachricht von der Ankunft des Klerus der Königin aus Stuttgart zur Beerdigung eines armen Serben nach dem russischen Ritus rief die gesamte Bevölkerung der Stadt zu einem so unerhörten Erlebnis auf die Beine. Wir vollzogen den Beerdigungsgottesdienst in dem Zimmer des Verstorbenen nur in Gegenwart des Krankenhauspersonals. Als wir jedoch auf den Friedhof kamen, erwarteten uns hier große Menschenmengen. Als wir die Litia begannen, wurde mein Kandidat der Theologie vollkommen verwirrt und begann, nach einem völlig unbekannten Motiv zu singen; er erfand und änderte den Ton bei jedem Vers, so dass ich gezwungen war, ihn seinem Schicksal zu überlassen, um ihn nicht ganz aus der Fassung zu bringen. Am nächsten Tag lasen wir in der Lokalzeitung eine Beschreibung dieser Beerdigung, wobei mit besonderer Begeisterung der sympathische nie gehörte Gesang des Lektors hervorgehoben wurde, der alle Anwesenden erstaunt hatte, und auch das erloschene Weihrauchgefäß wurde nicht vergessen, in dem man versuchte, ein Symbol des erloschenen Lebens im Sarg zu erblicken.

 


Seelsorgerische Tätigkeit bei den Fürstenfamilien

Im September 1852 verbrachte ich einige Tage in Frankfurt, um die Gattin des verstorbenen V.A. Schukowskij auf die Aufnahme in die Orthodoxe Kirche vorzubereiten. Als Protestantin geboren und erzogen, hatte sie seit der Eheschließung mit Schukovwskij an den Übertritt in die Orthodoxie gedacht. Noch zu Lebzeiten des verstorbenen Schukowskij Ende der vierziger Jahre, als er mit seiner Familie in Frankfurt lebte, sprach er öfters davon, dass ich einen Zeitpunkt auswählen müsste, um mit seiner Frau zu sprechen, die so sehr wünschte, mit unserer Kirche näher bekannt zu werden... Erst kurz vor dem Tod ihres Mannes, an seinem Sterbebett, beschloss sie, in die Orthodoxie überzutreten, und mit welcher Freude nahm der Sterbende diese Nachricht auf! Seit der Zeit bereitete sie sich auf den Übertritt in unsere Kirche vor, und da der Thronfolger Alexander Nikolajewitsch und seine Gattin Maria Alexandrowna versprochen hatten, bei ihrer Aufnahme Paten zu sein, war es notwendig, den Ritus der Aufnahme so zu gestalten, wie es für ihre Hoheiten angenehm war, die zu der Zeit in Darmstadt wohnten. Deshalb wurde zum Vollzug dieses Ritus unsere Kirche in Wiesbaden ausgewählt, wo ich auch die Aufnahme und Myronsalbung von Frau Schukowskij in Gegenwart ihrer Hoheiten durchführte.

Der Sommer des Jahres 1853 begann für mich mit einem traurigen Ereignis, das mich so eng mit der Familie des Fürsten Gortschakow verband: Im Juni dieses Jahres verstarb in Baden-Baden seine Gattin, und dieser Tod erschütterte ihn so tief, dass ich ihn darauf über ein Jahr lang trösten und unterstützen musste, zunächst mit mündlichen Gesprächen und dann, als er als Gesandter nach Wien versetzt wurde, mit Briefen. Dadurch wurde ich ganz in die Familie Gortschakow aufgenommen, ja mehr noch, in der Abwesenheit des Fürsten musste ich seinen Kindern den Vater und Erzieher ersetzen. Das war keine geringe Arbeit, aber gleichzeitig auch eine wichtige Episode in meiner seelsorgerischen Tätigkeit. Über den Fürsten Gortschakow sagte man, er sei ein großer Egoist und nutze die Menschen rücksichtslos zu seinem Vorteil aus. Er hatte wirklich die Angewohnheit, jemanden aus seinem Bekanntenkreis, den er auf der Straße traf, einzuhaken und, sich auf ihn stützend, mit ihm zu gehen und bis zur Ermüdung auf ihn einzureden. Ich war in diesem Fall auch eine Stütze für ihn, was mich nicht selten zur Erschöpfung führte. Doch ich versuchte, angesichts der Hilflosigkeit seiner moralischen Verfassung in dieser Zeit alles zu vergessen. Dafür vergaß er niemals seine alten Freunde und, als er sich auf dem Gipfel seiner Karriere als Staatsmann befand, suchte er beim Besuch Stuttgarts immer seine früheren Freunde auf und unterhielt sich gerne einfach mit ihnen.

In diesem Sommer kam die Großfürstin Maria Nikolajewna nach Cannstadt, um ihren Sohn Nikolaj Maximilianowitsch in die orthopädische Anstalt von Dr. Heine zu bringen. Da die Behandlung seines Beins eine Operation und später eine Maschine erforderte, musste er mehrere Monate in diesem Krankenhaus bleiben. Dafür wurde ein besonderes Haus bei der Anstalt angemietet, wo man ihn mit der Familie seines Erziehers A.A. Filosofow unterbrachte, Unterricht für ihn einrichtete und mich damit beauftragte, ihm Religionsunterricht zu erteilen. Damit der Aufenthalt des jungen Fürsten im Krankenhaus nicht zu langweilig würde, wurden ihm verschiedene Vergnügungen organisiert. Unter anderem wurde einmal auf Veranlassung von Filosofow ein großes Gartenfest gefeiert, bei dem auch die Großfürstin Olga Nikolajewna anwesend war. Um diesem fête champêtre russischen Anstrich zu verleihen, mussten unsere Sänger hinter den Büschen russische Volkslieder singen und einer der Diener lief durch den Garten als russischer Bauer verkleidet und verkaufte Eis. Auch meine Kinder mussten an diesen Vergnügungen des Prinzen teilnehmen. So wurde für ihn im Herbst ein feierliches Weintraubensammeln auf dem Rothenberg veranstaltet, mit Luftballons und Gewehr und Pistolenschießen. Einer der Sänger, Sidorenko, der bei solchen Anlässen den maître des plaisirs machte, brachte sogar eine Kanone aus Stuttgart herbei, aus der bei der Ankunft des Fürsten geschossen wurde. Am Abend wurde ein Feuerwerk veranstaltet...

 


Erhebung in die Würde eines Erzpriesters

In diesem Jahr wurde ich in die Würde eines Erzpriesters erhoben. Aus irgendeinem Grund beschloss unsere Geistliche Verwaltung, uns, die wir zu gleicher Zeit diesen Rang erhielten, nämlich mich, Wasiljew in Paris und Polisadow in Genf, zum Empfang dieser Würde nicht nach Russland zu senden, sondern zu einem der nächstgelegenen orthodoxen Bischöfe im Österreichischen Reich. Der Synod überließ uns selbst die Wahl und trat deshalb nicht über das Außenministerium mit der Österreichischen Regierung in Verbindung, so dass jeder von uns anfing, den nächstgelegenen Bischof zu suchen. Da ich hörte, dass in Venedig, welches zu der Zeit noch unter Österreichischer Herrschaft war, einer der serbischen Bischöfe im Ruhestand lebte, wollte ich dorthin fahren. Doch zum Glück erhielt ich noch rechtzeitig durch Vater Janyschew in Wiesbaden die Nachricht, dass Vater Wasiljew auch nach Venedig fahren wollte, sich aber vernünftigerweise über unseren Botschafter in Paris mit der Österreichischen Regierung ins Vernehmen gesetzt und erfahren hatte, dass in Venedig wohl ein Bischof im Ruhestand lebt, dieser jedoch kein Recht zu Weihen besitzt, da er vom Österreichischen Religionsministerium nicht dazu bevollmächtigt ist. Unter den am nächsten an Paris und demnach auch an Stuttgart gelegenen orthodoxen Bischöfen war der in der Nähe von Budapest in der serbischen Stadt St. André lebende Arsenij Stojkewitsch. Auf diese Weise mussten wir zu unserer Erhebung in die Würde des Erzpriesters nach Ungarn reisen. Zunächst in Wien eingetroffen, begab ich mich mit dem Erlass des Konsistoriums, in dem mir vorgeschrieben wurde, mich zur Erhebung in die Würde eines Erzpriesters an den nächsten orthodoxen Bischof auf Österreichischem Gebiet zu wenden, in unsere Gesandtschaft. Dort war man hierüber sehr erstaunt und angesichts eines solch ungewöhnlichen Vorganges verwirrt, und der Gesandte, Baron Meyendorff, erklärte mir, dass ich nicht eher zu dem Bischof reisen könne, als er in dieser Angelegenheit mit der Österreichischen Regierung Rücksprache hält. Nun begann eine Korrespondenz, die mich zwang, über eine Woche in Wien zu leben. Schließlich erklärte man mir in der Gesandtschaft, dass das Papier mit der Erlaubnis für Bischof Arsenij zu meiner Erhebung nach Ofen gesandt sei, und ich fuhr in die Hauptstadt Ungarns, die unter dem Namen Budapest bekannt ist. Am nächsten Tag fuhr ich nach St. André, das zwei Reisestunden von Ofen entfernt liegt. An der bischöflichen Residenz vorgefahren, wunderte ich mich furchtbar, da ich auf dem begrenzten Hof nichts sah, außer einem kleinen einstöckigen Gebäude, das auf einer Seite ähnlich einer Kaserne ausgestreckt war. Es zeigte sich jedoch, dass dies tatsächlich das Haus des Bischofs war. Bischof Arsenij, ein Mann von damals gerade 50 Jahren, empfing mich liebevoll und unterhielt sich mit mir auf kirchenslawisch; er erklärte mir, dass er die Anweisung des Kirchenministeriums hinsichtlich meiner Erhebung noch nicht erhalten habe, und dass er ohne dieses Papier diesen Akt nicht vornehmen könne. Nun musste ich wieder nach Ofen fahren, und in verschiedenen Kanzleien nach dem aus Wien gesandten Schreiben über meine Weihe suchen. Schließlich fand meine Erhebung in die Würde eines Erzpriesters nach langen und großen Bemühungen am 29. August in der Bischofskirche zu St. André statt. Als ich nach Hause zurückkehrte, wollte ich dem Bischof Arsenij meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen und schickte ihm aus meiner Bibliothek die Predigten des Metropoliten Philaret und einige Werke des hochgeweihten Makarij. Doch wie groß war meine Verwunderung, als ich dieses Paket aus Wien zurückerhielt, mit der Bemerkung, dass russische Bücher ohne Übersetzung ins Deutsche nicht nach Österreich eingelassen werden. Auch jetzt befinden sich die Slawen in Österreich, insbesondere die Orthodoxen, unter strenger Kontrolle der Regierung, und unsere gottesdienstlichen Bücher erhalten sie nur auf Umwegen. 

 


Das Vermächtnis des Zaren Nikolaj Pawlowitsch

Auf den Winter 1853/54 reiste die Großfürstin Olga Nikolajewna nach Russland, und ich wollte sehr gerne mit ihr fahren. Aber der Fürst Gortschakow widersetzte sich entschieden, indem er erklärte, dass es meinerseits unchristlich wäre, ihn in einer solchen Lage, in der er sich nach dem kürzlichen Verlust seiner Frau befand, ohne Trost zurückzulassen. Doch im Februar 1854 erhielt ich die beunruhigende Mitteilung von der gefährlichen Erkrankung meines Schwiegervaters, des Erzpriesters Kotschetow. Dies zwang mich, wieder gen Petersburg zu streben, aber auch hier war Fürst Gortschakow nicht damit einverstanden, mich reisen zu lassen, bis schließlich der Sekretär der Großfürstin, N.F. Adelung, mich benachrichtigte, dass ihre Hoheit, ohne mich gefragt zu haben, mir einen Urlaub in Russland erbeten hatte.

In Petersburg eingetroffen, fand ich meinen Schwiegervater schon nicht mehr unter den Lebenden, ja ich war nicht einmal bei seiner Beerdigung, da ich erst am folgenden Tag eintraf. Doch ich war zufrieden, dass ich den Kummer der verwaisten Familie teilen konnte. Dazu erwachte hier in mir wieder der starke Wunsch, in Russland zu bleiben, meinen Schwiegervater im Lyzeum abzulösen, in dem er so viele Jahre Religionsunterricht erteilt hatte. Dieser Gedanke gefiel allen und wurde von der Schulverwaltung so günstig aufgenommen, dass der Prinz P.G. von Oldenburg zur Großfürstin Olga Nikolajewna fuhr, um ihre Genehmigung zu meiner Ernennung als Religionslehrer im Lyzeum einzuholen. Aber hier traf er auf eine entschiedene Absage. Ihre Hoheit war unter keinen Umständen bereit, mich zu entlassen und legte mir im Gespräch über diese Angelegenheit wiederum dar, dass es für die Gesundheit meiner kleinen Kinder, die tatsächlich beide an chronischer Ohrenentzündung litten, besser wäre, noch einige Jahre im Ausland zu verbringen. Seinerseits schrieb mir auch Fürst Gortschakow, der davon gehört hatte, aus Stuttgart: 

"Zweifellos erwarte ich, dass Sie mit der Großfürstin zu uns zurückkehren. Olga Nikolajewna braucht hier die Zuneigung aller, und Ihre geistliche Stützung. Es sei denn, Sie werden zum Thronfolger gerufen, glaube ich, dass keine Stelle für Sie und Ihre Kinder vorteilhafter wäre als die hiesige. Vom Lyzeum kann im Vergleich überhaupt nicht die Rede sein". Auf diese Weise gelang mir auch dieser Versuch, in den Dienst in der Heimat zurückzukehren, nicht. Wir begannen, uns auf den Rückweg ins Ausland vorzubereiten. 

Am 2. Mai 1854, einen Tag vor unserer Abreise aus Petersburg, sprach ich im Hof der Großfürstin Olga Nikolajewna vor. Sie weinte bei dem Gedanken, sich vom Elternhaus trennen zu müssen. Es schien so, als ob irgendein Vorgefühl ihrem Herzen sagte, dass sie ihren geliebten Vater nicht mehr sehen würde. Da man mich dem Zaren noch nicht vorgestellt hatte, lud sie mich ein, heute – es war Sonntag – in die kleine Kirche des Winterpalais zur Liturgie zu kommen, nach der ich den Zaren sehen sollte. Den verstorbenen Kaiser Nikolaj Pawlowitsch zu sehen, war eine ungewöhnliche Sache. Ich erinnere mich, ich sah ihn zum ersten Mal im Leben 1850 im Michailow-Palais. Als ich damals noch aus Wiesbaden zu einem Aufenthalt nach Russland kam, begab ich mich am 28. Dezember zur Großfürstin Helena Pawlowna, um ihr zu ihrem Geburtstag zu gratulieren. Die Säle des Palais waren überfüllt mit Menschen, die das Erscheinen der Großfürstin erwarteten, als plötzlich mitgeteilt wurde, dass der Zar gekommen sei. Die Großfürstin Helena Pawlowna kam aus ihren inneren Gemächern und begab sich zum Empfang des Herrschers; auch ich lief aus dem Saal in den Korridor und blieb am Anfang der Treppe wie angewurzelt stehen. Die Treppe hinauf kam der Zar. Ich konnte nirgendshin ausweichen und blieb auf der Stelle stehen, beeindruckt von dieser erhabenen Figur eines ungewöhnlichen Menschen. Nun sollte ich Seiner Hoheit unter ganz anderen Umständen und einem anderen Eindruck vorgestellt werden. Ich hatte das Glück, der geistliche Vater seiner Lieblingstochter zu sein. Es war eine ernste Zeit für ganz Russland, es war die Stunde des Abschieds – was damals noch niemand erriet – des letzten Abschieds dieser Lieblingstochter von dem angebeteten Vater. Ich stand im Altar. Die Liturgie zelebrierte V.B. Baschanow. Vor dem Ambogebet kommt ein Sänger in den Altar, und sagt, dass der Zar angeordnet habe, Bazarow solle auch herauskommen, wenn Baschanow mit dem Kreuz herauskomme. Ich komme heraus. Nachdem der Zar das Kreuz verehrt hatte, trat er zu mir, um meinen Segen zu empfangen, wir küssten uns gegenseitig, und er fragte: "Wann fahren Sie?" "Morgen, Eure Hoheit!" antwortete ich. "Ich wünsche Ihnen gute Reise!" und dann nahm er mich bei der Hand, und sagte mit dem gütigsten und freundlichsten Lächeln: "Behüten Sie meine kleine Olga!"

Dieses Vermächtnis des kaiserlichen Vaters bestimmte mein endgültiges Schicksal, und nachdem ich nach Stuttgart zurückgekehrt war, begann ich, mich hier einzurichten, um meinen Platz nicht zu verlassen, solange Gott in Seinen Richtsprüchen nicht anders entschied...

 


Einweihung der neuen Kirche im Hof der Großfürstin

Nach Stuttgart zurückgekehrt, begann ich mich auf einen länger anhaltenden Aufenthalt einzurichten, und mietete dafür eine bequemere Wohnung, in der ich meinen Einzug feierte, wozu ich meine Mitarbeiter aus der Gesandtschaft einlud; darauf eröffnete ich bei mir sonntags abends den Empfang für alle Russen, die in der Folge Stuttgart in größerer Zahl besuchten. Hier machte ich unter anderem die Bekanntschaft mit einer bemerkenswerten Persönlichkeit jener Zeit, dem Baron Haxthausen, dem bekannten Autor über Russland und sein wirtschaftliches Leben. Mit besonderer Erlaubnis unserer Regierung durchreiste er ganz Russland, wobei er sein Augenmerk hauptsächlich auf das Leben des Volkes wandte. In seinen Bekanntschaften mit den Bauern gelang es ihm, solch gutes Vertrauen besonders bei unseren Altgläubigen zu erwecken, dass er wohl als erster die Geschichte der Altgläubigen eröffnete oder zumindest niederschrieb... Als er zu mir kam, um mit mir wieder bekannt zu werden, wusste ich überhaupt nicht, dass er Katholik war und sogar, wie ich später erfuhr, ein eingefleischter Jesuit, und deshalb war unser Gespräch vom ersten Moment an außerordentlich unangenehm. Auf seine Frage, was ich tue, womit ich im Ausland besonders beschäftigt bin, antwortete ich, dass ich einerseits das Leben der hiesigen Kirche und Theologie studiere und andererseits versuche, die Deutschen mit unserer Kirche bekannt zu machen.

"So veröffentlichte ich vor kurzem", fuhr ich fort, "in der Darmstädter Allgemeinen Zeitung die Antwort des Patriarchen von Konstantinopel auf die Enzyklika Pius IX."

Bei diesen Worten sprang mein Gast vom Sessel auf und rief pathetisch aus, dass meine und der anderen Priester im Ausland Aufgabe darin bestehe, vermittelnd zu dienen und nicht Zwiespalt zwischen den Kirchen zu säen, dass der Papst von dem einen Gedanken der Aussöhnung mit der Ostkirche beseelt sei, dass man ihn nicht verstanden habe und dass eine Frucht dieses Missverständnisses auch die Antwort des Patriarchen von Konstantinopel sei. Dabei teilte er mir mit, dass er Gelegenheit hatte, über dieses Thema mit der Großfürstin Olga Nikolajewna zu sprechen, und dass er ihr eine schriftliche Mitteilung über diese Angelegenheit zukommen lassen werde. Tatsächlich richtete er bald darauf ein Schreiben an ihre Hoheit mit seinen Ansichten über die Vereinigung der Kirchen. Die Großfürstin übergab mir dieses Schreiben und beauftragte mich, darauf zu antworten. Auf diese Weise entspann sich zwischen uns eine lange Korrespondenz, in der all das durchgesprochen wurde, was jemals über die Trennung der Kirchen gesagt wurde. Als wir schließlich zu der Überzeugung gelangten, dass Baron Haxthausen und ich in zu starkem Maße Privatpersonen waren, um eine Frage von so weit reichender Bedeutung zu lösen, schlug ich meinem Antagonisten vor, diese Korrespondenz zu veröffentlichen und dadurch neues Interesse an dieser Angelegenheit zu wecken, die wegen der Länge der Jahre bereits begann, ins Archiv gelegt zu werden. Doch Haxthausen war damit nicht einverstanden, da er vielleicht wegen seiner Kompromissbereitschaft, die er im Briefwechsel mit mir an einigen Stellen an den Tag gelegt hatte, Angst hatte, schickte mir sein Porträt und bat mich, mit ihm in persönlicher Freundschaft zu verbleiben.

Wegen des Krieges mussten in jener Zeit alle Russen, die gewöhnlich in Paris lebten, dieses Land verlassen, und viele von ihnen siedelten nach Stuttgart über. So auch die Fürstin Butera, die in erster Ehe mit dem Grafen Schuwalow verheiratet gewesen war, in zweiter Ehe aber mit Graf Pogliet, und nach dem dritten Mann die Besitzerin einer reichen Villa in Palermo wurde, wo 1846 während des dortigen Aufenthaltes der Zarin Alexandra Feodorowna die Verlobung der Großfürstin Olga Nikolajewna mit dem Erbprinzen von Württemberg stattfand. Deshalb war ihr Aufenthalt in Stuttgart sowohl für die Großfürstin als auch besonders für die Bevölkerung Stuttgarts sehr angenehm. Als Besitzerin großer Mittel gab die Fürstin Butera sehr viel Geld aus und ließ allen, die sich an sie wandten, Almosen zukommen. Schließlich kam es so weit, dass sich selbst junge Offiziere mit der Bitte um Unterstützung bei ihrer Erstausstattung an sie wandten und 500 oder 1.000 Gulden erhielten.

In diesem Jahr erfolgte in der Gesandtschaft in Stuttgart eine Veränderung. Gortschakow wurde zum Gesandten in Wien ernannt, und seine Stelle nahm V.P. Titow ein, der bis zum Krieg Botschafter in Konstantinopel gewesen war. Diese Veränderung verschaffte mir das neue Vergnügen, in ihm einen Russen an Herz und Seele kennenzulernen, der mit einem forschenden Verstand begabt war und sich für alles bis zu den letzten Einzelheiten des Wissens und des Lebens interessierte. Auch seine Familie verschaffte mir neue Nahrung für Verstand und Herz sowohl in den Gesprächen mit seiner Gattin wie auch im Unterricht mit seinen Kindern. 

Das Ende des Jahres 1854 ist mir dadurch in Erinnerung, dass im Dezember dieses Jahres die neue Kirche im Hof der Großfürstin eingeweiht wurde. Bis dahin wohnte die Großfürstin mit ihrem Gemahl in dem großen Königshof, und die Kirche, die früher als Gesandtschaftskirche gedient hatte, war zeitweilig in einem Anbau des Hofes untergebracht. Als aber der neue für den Kronprinzen gebaute Hof fertig war, wurde hier für die Kirche ein besonderer Saal eingerichtet, in dem auch der eigene Ikonostas ihrer Hoheit eingebaut wurde. Zur Weihe dieses neuen Raumes wurden Vater Janyschew aus Wiesbaden und Vater Sudakow aus Genf eingeladen. Einen Diakon erhielten wir aus Bern; er war dort als Psalmist tätig und wurde genau zu der Zeit zum Diakon geweiht, als wegen des Krieges des Sonderbundes 1846 unsere Gesandtschaft aus der Schweiz abberufen und gleichzeitig unsere Kirche dort geschlossen wurde, bis sie auf Wunsch der Großfürstin Anna Feodorowna, der geschiedenen Gattin des Großfürsten Konstantin Pawlowitsch, Anfang der fünfziger Jahre nach Genf überführt wurde. Infolgedessen blieb der Berner Diakon vom Tag seiner Weihe an in partibus infidelium, und als er zu uns zum Gottesdienst kam, war er in solchem Maße unfähig zu zelebrieren, dass er z.B. in der Fürbitte für die "Reisenden zu Wasser und zu Lande in diesem heiligen Hause" betete und dadurch unwillentlich die Anwesenden zum Lachen reizte. Dabei erinnere ich mich an die Ungeschicklichkeit eines anderen Mitzelebranten bei diesem Fest. Vater Sudakow, der niemals zuvor bei Hofe gewesen war, musste sich hier zum ersten Mal einer hochgestellten Persönlichkeit vorstellen. Vom Hof zurückgekehrt, erzählte er mir begeistert, wie er von der gütigen Aufnahme der Großfürstin bezaubert war.

"Ich wollte so dieses Gespräch verlängern, – sagte er –, dass ich bereit gewesen wäre, eine ganze Stunde bei ihr zu sitzen, doch ich genierte mich, stand auf und ging".

"Wie, – sage ich –, stand auf und ging! Kann man etwa bei der Audienz bei hochgestellten Persönlichkeiten einfach gehen, ohne entlassen zu werden?" 

Danach traf ich bald die Großfürstin, und sie sagte mir, dass sie Vater Sudakovw sehr interessant gefunden habe. 

"Nur, – fügte sie hinzu –, er hatte es irgendwie eilig, und ich konnte mit ihm nicht länger sprechen".

 


Der Tod des Kaisers Nikolaj Pawlowitsch

Das Jahr 1855 begann mit einem traurigen Ereignis, das Russland in tiefen Kummer stürzte und ganz Europa erschütterte. Den Kaiser Nikolai Pawlowitsch fürchtete man in Europa, doch man hatte große Ehrfurcht vor ihm, man zitterte vor ihm, man hatte vor allem Angst. Als in Europa die Revolution des Jahres 1848 ausbrach, gerieten die Throne aller europäischen Staaten ins Wanken und nicht wenige flogen von ihren Plätzen, und die, die noch auf ihren Thronen saßen, mussten jede Minute um ihre weitere Existenz bangen. In dieser Zeit erhob sich über allen in imposanter Weise die mächtige Figur des Zaren Nikolaj, auf den die Blicke aller gerichtet waren, sei es mit hoffnungsvollem Zutrauen, sei es mit Furcht. Die mehrere Monate lang andauernde Belagerung von Sewastopol hielt alle in gespannter Erwartung, wie dieser Kampf Europas gegen Russland enden würde, und inmitten dieser angespannten Erwartung aller erklingt die unerwartete Nachricht vom Tod des Kaisers Nikolaj. Dieses Ereignis war derart unerwartet, dass selbst die Großfürstin Olga Nikolajewna, die sich bei der ersten Nachricht über die Gefahr für das Leben ihres Vaters auf den Weg nach Russland begab, noch vor Erreichen der russischen Grenze von seinem Tod erfahren musste. Die Furcht und Erregung von uns allen in Stuttgart waren so groß, dass wir zunächst nicht wussten, ob wir an dieses scheinbar unmöglich Ereignis glauben sollten. Doch das Ableben des Kaisers war fraglos, und wir begannen unsere Kirche in Trauer zu kleiden und uns auf einen feierlichen Totengottesdienst vorzubereiten. Es ist bemerkenswert, dass nicht nur in Stuttgart, wo sich die Tochter des verstorbenen Kaisers befand, sondern überall im Ausland, wo es russische Kirchen gab, die Trauergottesdienste für den verstorbenen Kaiser von einer großen Zahl von Ausländern besucht wurden, und zwar nicht nur offizieller Persönlichkeiten, sondern auch einfacher Bürger, die dabei die allgemeine Hochachtung vor dem ihnen zu seinen Lebzeiten furchtbaren russischen Kaiser ausdrückten...

Danach wurde in den Ortszeitungen bekanntgegeben, dass sich alle Russen, die sich im Königtum Württemberg aufhielten, zum feierlichen Eid auf den neuen Kaiser in der russischen Kirche in Stuttgart einfinden sollten. Es versammelten sich viele, insbesondere Russlanddeutsche, die ungeachtet ihres protestantischen oder gar katholischen Glaubens den Eid in unserer Kirche leisteten, wobei sie das Kreuz und die Worte des Evangeliums küssten. Es erschienen auch russische Juden, doch sie schickte man für den Eid zum Ortsrabbiner und zum Unterschreiben der Eidespapiere in die russische Gesandtschaft. 

Über den Zustand unserer Großfürstin, zu der unsere Herzen aus Stuttgart gerichtet waren, erhielt ich Nachrichten über den Sekretär N.F. Adelung, der mit ihr nach Petersburg gereist war. So schrieb er mir am 6. (18.) März:

"Ihren Brief vom 20. Februar (4. März) hatte ich das Vergnügen zu erhalten und übergab ihn unmittelbar der Großfürstin Olga Nikolajewna. Ihre Hoheit gab mir den Brief zurück und sagte, dass es ihr ein großer Trost gewesen sei, von den Trauerfeiern und den Beileidsbekundungen in Stuttgart zu hören, die ein Echo der tiefen Trauer und der inständigen Gebete darstellen, die ganz Russland erfüllen. Olga Nikolajewna trug mir auf, Ihnen herzlich für diesen Brief zu danken. Sie ist nicht ganz gesund; doch man konnte auch nichts besseres erwarten. Nach einer moralisch und physisch schweren Reise traf sie sich mit den ihren, im Laufe von zwei Wochen war sie bei zwei Panichiden täglich anwesend, und schließlich ließ sie gestern die furchtbarste Prüfung im Leben über sich ergehen: Sie sah, wie die sterblichen Überreste dessen der Erde übergeben wurden, den sie von Kindesbeinen an über alles geliebt und verehrt hatte. Doch Gott ist barmherzig! Hoffen wir, dass sie sich im Gebet bald gänzlich von ihrer kleinen Erkrankung erholt und in Taten der Barmherzigkeit, die für sie so typisch sind, Trost und Freude findet, die sie in diesem schweren Moment ihres Lebens zeitweilig verlassen haben!"

Doch inmitten dieser allgemeinen Trauer erlebte ich bald Trost und Freude, die sich aus der Barmherzigkeit des jungen Monarchen auf die Fürsprache der Großfürstin für mich ergossen. Am 17. April wurde ich mit dem ersten Orden in meinem Dienst ausgezeichnet, dem Orden der Hl. Anna 2. Klasse. Mir war es besonders wertvoll und wichtig, dass dies am Geburtstag des Herrschers geschah, der mich während seines ganzen Lebens stets mit Wohltaten überhäufte und seine besondere persönliche Gewogenheit mir gegenüber zeigte. 

Unterdessen dauerte der Kampf um Sewastopol immer noch an, und wir nahmen im Ausland lebhaften Anteil sowohl an den Nachrichten vom Kriegsschauplatz als auch an der größtmöglichen Hilfe für unsere verwundeten und insbesondere gefangenen Soldaten. In dieser Angelegenheit schrieb mir Vater Joseph Wasiljew aus Paris: "Die Erde wird von Gerüchten erfüllt, und Paris ist eine Höhle, in der das Echo mit besonderer Klarheit widerhallt. Von diesem Widerhall erfuhr ich, dass es um uns fromme Seelen gibt, die in christlicher Weise am Unglück unserer Kriegsgefangenen, die sich in Frankreich befinden, Anteil nahmen, und ihr Los erleichtern wollen. Es gibt kein zeitgerechteres und heiligeres Opfer; die Heilige Kirche, die für die Unglücklichen in steigendem Maße entsprechend ihren Kümmernissen betet, stellte die Gefangenen auf den letzten Platz. Aus der Erfahrung sehe ich, dass sich in Gefangenschaft alles Unglück ansammelt: Reisen zu Land und zu Wasser, Krankheiten, seelische Leiden... Ich hatte schon den Trost, dass ich ihnen durch das Zutun guter Landsleute helfen konnte, die in der väterlichen Fürsorge des Herrschers ein Beispiel christlichen Verhaltens erkannten. Dank dieser Unterstützung verteilte ich unter den Gefangenen Kleidung, Schuhwerk und andere lebensnotwendige Dinge. Die Kriegsgefangenen befinden sich auf einer entfernten Insel des Atlantischen Ozeans, Aix. Ihre Lage ist erträglich, wenn man die russische Natur in Betracht zieht, die an Geduld und Selbstaufopferung reich ist. Ich verlebte anderthalb Monate auf der Insel und bedauere, dass ich wegen Fiebers zu den Feiertagen nicht bei ihnen sein kann, hoffe jedoch, dass ich sie in der bevorstehenden Fastenzeit besuchen kann". Natürlich erwiderten diesen Ruf ohne Ausnahme alle Russen in Stuttgart. Die gesammelte Summe wurde nach Paris an Vater Wasiljew geschickt.

 


Einweihung der Grabkirche der verstorbenen Großfürstin Elisabeth Michailowna in Wiesbaden 

Im Mai 1855 erfolgte die Einweihung der Grabkirche über den sterblichen Überresten der Großfürstin Elisabeth Michailowna in Wiesbaden, genau zehn Jahre nach ihrem Tod. Im Laufe dieser Jahre war der Sarg mit ihrem Körper zunächst in der evangelischen und dann in der katholischen Kirche in Wiesbaden aufbewahrt worden. Der Herzog von Nassau hatte sofort nach dem Tod seiner Gattin den Bau einer Grabkirche im russischen Stil beschlossen und dafür seinen Architekten Hoffmann nach Russland geschickt, um an Ort und Stelle den russischen Kirchenbau zu studieren und einen entsprechenden Plan für die Kirche zu entwerfen, die er an einem sichtbaren Platz auf einer der Anhöhen, Neroberg genannt, erbauen wollte, die die Stadt beherrscht und vom Rhein und der nächsten Umgebung aus sichtbar ist. Der Plan und seine Ausführung gelangen glänzend, und jetzt bekennt jeder Russe, der diese Kirche besucht, dass es in Russland selbst kaum eine ähnliche gibt, die auf kleinem Raum soviel Harmonie, Pracht und Reichtum verbindet. Bevor ich mich zur Weihe dieser Kirche auf den Weg machte, sandte ich an Vater Janyschew einige Exemplare meiner Übersetzung der Panichida, damit man sie unter den dortigen Deutschen verteilen konnte, die an der Übertragung des Sargs der Großfürstin in die neue Kirche teilnehmen würden, und er war von diesem Büchlein so begeistert, dass er mir am 11. (23.) April darüber folgendes schrieb: "Ich danke Ihnen innigst für die Aufmerksamkeit, mit der Sie mich beehrt haben, indem Sie einige Exemplare Ihres Büchleins nach Wiesbaden sandten. Von ganzer Seele wünschte ich, dass es einen solchen Eindruck auf alle Leser ausübt, wie auf mich. Ich meine besonders Ihre Einführung. Kürzer, einfacher, redegewandter und stärker hätte man das Verständnis unserer Panichida nicht darstellen können. Doch was am verständlichsten für den orthodoxen Leser ist und am wichtigsten für den Andersgläubigen, das sind die angemessen verteilten Bemerkungen über den Geist unserer Kirche und ihre Riten, wie zum Beispiel über das vielfältige Wiederholen ein und derselben Gebete, über die Zeit der Gottesdienste für Verstorbene, über die Wirkung des Äußerlichen auf die inneren Gefühle. Die dramatische Darstellung im Ganzen muss unwillkürlich den Leser anziehen, nicht nur den heterodoxen, sondern auch den an diese Gottesdienste gewöhnten orthodoxen. Wahrlich solche Darstellungen würden in Russland sehr willkommen sein, wo es nach Ihren Worten viel gibt, die Augen haben zu sehen, doch nicht sehen. Jetzt verstehe ich besser Ihre Absicht, im Laufe der Zeit eine Darstellung der Riten und der dogmatischen Seite aller Sakramente herauszugeben. Wenn das so gut gelingt, wie es mit der Panichida gelang, so wird das offensichtlich und ohne Zweifel von Nutzen sein. Wenn wir schon einmal und für immer äußerliche Symbole brauchen, so kann man in den Geist ihrer aller mit Worten anstelle von Farben nicht bildhafter und einprägsamer eindringen und ihr Bild malen, als Sie das in Hinsicht auf die Panichida getan haben". Und tatsächlich war dieses Büchlein in aller Hände, als wir nach der Übertragung des Körpers der Großfürstin in die neu geweihte Kirche hier die Panichida feierten. Die Feierlichkeit der Weihe selbst wage ich nicht zu beschreiben, da dies der verstorbene Fürst P.A. Wjazemskij so wortgewandt und poetisch getan hat (s. Ges. Werke, Bd. 7, S.5).

Die Großfürstin kehrte schon im Juni aus Petersburg zurück, und unser gewöhnliches Leben in Stuttgart begann wieder. In dieser Zeit übersetzte ich auf Wunsch Ihrer Hoheit das in französischer Sprache erschienene Büchlein unter dem Titel "Quelques mots d'un chrétien orthodoxe aux confessions occidentales" ins Deutsche. Meine Übersetzung wurde absichtlich in Frankfurt veröffentlicht, um nicht den Anschein zu erwecken, dass sich die künftige württembergische Königin in den Streit zwischen den Kirchen des Ostens und des Westens einmischt. Das sehr mutig und klug geschriebene Büchlein Chomjakows lenkte die Aufmerksamkeit der deutschen Theologen auf sich und rief zumindest seitens der Protestanten Reaktionen hervor, in denen die Erkenntnis der Wahrheit zu hören war, die ihnen von einem orthodoxen Nicht-Theologen ins Gesicht gesagt wurde.

Inzwischen gelangte die Großfürstin mit ihrem Gatten nach Friedrichshafen und weilte in dem Hof, der von der Königin bewohnt wird. Aus Anlass des bevorstehenden Geburtstags ihrer Hoheit (30. August) bereitete man in Friedrichshafen Feierlichkeiten mit Beleuchtung und Feuerwerk auf dem See vor, als uns plötzlich am 29. August die fatale Nachricht erreichte, dass wir Sewastopol aufgegeben hatten. Es konnte scheinen, dass hierin überhaupt nichts Ungewöhnliches lag, doch die Aufgabe Sewastopols übte auf alle, nicht nur die Russen, sondern sogar die Deutschen einen solchen Eindruck aus, als ob mit ihm ganz Russland gefallen sei. Tatsächlich gab sich fast ganz Europa bei Sewastopol ein Duell mit Russland, und unter den Deutschen Schlossen viele Wetten für die einen oder die anderen ab. Doch für uns Russen selbst war in diesem Kampf die nationale Ehre berührt, und deshalb ließen wir unwillkürlich mit der Aufgabe Sewastopols die Köpfe hängen. Uns, die wir zu dieser Zeit im Ausland lebten, war selbst das Mitgefühl, das uns ehrlich entgegengebracht wurde, wie dies zumindest in Deutschland der Fall war, kränkend. Wir wollten uns damals alle in Russland verstecken, um einerseits nicht die Schadenfreude und andererseits das Mitleid der Ausländer zu sehen. Man kann sich auch die Verfassung unserer armen Großfürstin vorstellen, die als Erbprinzessin von Württemberg nicht das Recht hatte, aus diesem Anlass des für ihr Herz nationalen Kummers Trauer anzulegen, und gezwungen war das für ihren Geburtstag vorbereitete Fest in Friedrichshafen mit Feuerwerk und Illumination über sich ergehen zu lassen. Wir wenigen Russen, die wir anwesend waren, schlossen unwillkürlich die Augen vor diesem für uns unangemessenen Fest, obwohl wir überzeugt waren, dass die guten Deutschen und besonders die Württemberger, die uns so aufrichtig ihr Mitgefühl ausgedrückt hatten, hiermit keinerlei politische Gefühle verbanden.

 


Übertritt in die Orthodoxie der Prinzessin Cäcilie in Karlsruhe 

Im Sommer 1856 sollte die Kaiserin Alexandra Feodorowna zur Kur nach Wiesbaden kommen, und wir sollten mit dem Klerus zum Gottesdienst dorthin reisen. Aus Anlass des Aufenthaltes der Kaiserin kamen so viele Menschen nach Wiesbaden, dass viele, die zur Kur gekommen waren, in den Kutschen übernachten und am folgenden Tag ein Quartier in der Umgebung Wiesbadens suchen mussten. Der Grund hierfür lag in der Gewohnheit der verstorbenen Kaiserin, mit einer riesigen Gefolgschaft zu reisen, so dass nicht selten zwei oder drei Gasthöfe sowohl für das Gefolge als auch für die erwarteten hochgestellten Besucher gemietet wurden, die zum Empfang der Kaiserin erschienen, und für die Russen, die um Erlaubnis baten, sich ihrer Hoheit vorzustellen. Dieses Mal erwartete man eine besonders interessante Visite: Aus Karlsruhe sollte die verwitwete Großherzogin mit ihren zwei Töchtern kommen, von denen eine später unsere Großfürstin wurde, die Gattin des Großfürsten Michail Nikolajewitsch. Ich erinnere mich an ihre Ankunft und unser aller Neugier, welche der beiden die Verlobte des Großfürsten wird. Am Tag nach ihrer Ankunft wurde bekannt, dass die Wahl auf die jüngere der beiden gefallen war, die Prinzessin Cäcilie. 

Doch da die deutschen Prinzessinnen bei ihrer Heirat mit russischen Großfürsten ihre Glaubenszugehörigkeit ändern mussten, stand diese Frage auch hier im Vordergrund. Die Prinzessin Cäcilie war noch sehr jung – sie war gerade 16 Jahre – und sie war noch nicht konfirmiert. Trotzdem war der Übertritt in die Orthodoxie für sie wegen ihrer völligen Unkenntnis des orthodoxen Glaubens und der Vorurteile, die allen Protestanten hinsichtlich der Ostkirche eigen sind, furchtbar und schrecklich. Zum Glück war die Mutter der Prinzessin, die verwitwete Großherzogin Sophie, eine sehr vernünftige Frau und betrachtete diese Sache aus der Höhe ihres christlichen Verstandes. Am Tag nach der Verlobung des Großfürsten lud sie mich ein und erfuhr aus den ersten Worten, dass ich eben der Priester war mit dem ihr verstorbener Gatte, der Großherzog Leopold, 1850 bei der Taufe bei Beckendorfs in Baden-Baden Bekanntschaft geschlossen hatte, und von dem er ihr so viel erzählt und den er später nicht selten freundlich erwähnt hatte.

Dieser Umstand verband uns sofort, und die Großherzogin war froh, dass sie mich der Prinzessin sofort als einen ihnen bekannten Menschen vorstellen konnte. Auf diese Weise war der erste Eindruck von dem russischen Priester, diesem "Popen", wie man auf Deutsch sagt, günstig, und die junge Prinzessin lebte sichtlich auf. Sie war so liebenswürdig, dass ihre "Königliche Hoheit" trotz ihrer 16 Jahre eher einem bescheidenen Mädchen glich, als einer künftigen Großfürstin.

 Am nächsten Tag – es war der 2./14. Juli – war für mich das erste Gespräch mit ihr in Gegenwart der Kaiserin anberaumt. Dabei gab ich einen allgemeinen Überblick über die orthodoxe Lehre und berührte die wesentlichen Besonderheiten in der Lehre unserer Kirche, wie z.B. die Anrufung der Heiligen, Verehrung der Ikonen u.ä. Meine Unterhaltung dauerte etwa eine Stunde. Sie wurde natürlich auf Deutsch geführt und stellte meinerseits eine Improvisation dar, die mir mit Gottes Hilfe vollkommen gelang, so dass die Kaiserin mir nach dem Fortgang der Prinzessin sagte:

"Glücklich sind die heutigen Prinzessinnen, dass sie so gut auf den Übertritt in die Orthodoxie vorbereitet werden. In unserer Zeit sagte man uns nur, dass dies aus politischen Überlegungen notwendig ist, und fragte nicht einmal, ob wir das verstehen, was wir bei der Aufnahme in die Orthodoxie aufnehmen sollten." Dann fügte ihre Hoheit hinzu: "So weiß ich bis heute nicht, ob ich nicht dadurch sündige, dass ich vieles in der Russischen Kirche nicht weiß und anderes nicht verstehe".

"Eure Hoheit! – antwortete ich ihr –, unsere Kirche ist ein reiches Haus, in dem es so viele kostbare und nützliche Dinge gibt wie in Ihrem Palast. Wenn aber Eure Hoheit sich jedoch nicht eines jeden dieser Dinge bedient, so bedeutet dies noch nicht, dass sie nutzlos sind und deshalb heraus geworfen werden müssen. So ist auch in der Kirche nicht jede Sache und jedes Ritual unabdingbar und notwendig für jeden, aber dennoch sind sie nicht minder nützlich und wohltuend für viele. Ich kann zum Beispiel wegen der Umstände niemals Reliquien verehren, doch hindert mich das nicht daran, ihre Heiligkeit und die Verehrung für sie für diejenigen, die sich ihnen mit Ehrfurcht nähern, als wohltuend zu bejahen. Dabei muss man immer die Worte des Apostels über das Fasten in Erinnerung behalten: "Die Speise stellt uns nicht vor Gott, doch wenn das Fleisch meinem Bruder ein Ärgernis gibt, so will ich lieber für immer kein Fleisch essen!"

Die Kaiserin war mir sehr dankbar für eine solche Beruhigung ihres aufgewühlten Gewissens. Doch nicht so beruhigend war der Eindruck, den mein Gespräch auf das junge Herz der Prinzessin ausgeübt hatte.

Am folgenden Tag erfuhr ich von der Großherzogin, dass ihr besonders die Verehrung der Heiligen unverständlich war und in erster Linie der Gottesmutter, was sie so an den Katholizismus erinnerte. 

"Ich fand sie, – erzählte mir die Großherzogin –, auf den Knien betend und in Tränen. Das erschrak mich sehr, aber Cäcilie beruhigte mich, indem sie sagte: 'Jetzt fühle ich mich besser; ich habe gebetet und beschlossen, alles in meiner neuen Kirche anzunehmen!' ".

In Erinnerung an diesen Kampf wunderte ich mich später nicht selten, wenn die Prinzessin bei unserem Unterricht meine Erklärungen hörte und selbst sagte: "Wie konnten denn die Protestanten das ablehnen? Wie können sie die Gottesmutter nicht verehren? Warum bringen sie den Heiligen keine Verehrung dar!"

Da die Prinzessin Cäcilie noch zu jung war, wurde ihre Heirat mit dem Großfürsten um ein ganzes Jahr verschoben, und ich wurde damit beauftragt, ihr während dieser Zeit Religionsunterricht zu erteilen, während ihr gleichzeitig ein Lehrer für die russische Sprache zugeteilt wurde. Ich begann meinen Unterricht mit der Prinzessin im Herbst dieses Jahres und fuhr während des ganzen Winters bis zu ihrer Abreise nach Russland im Juni des folgenden Jahres allwöchentlich auf drei Tage nach Karlsruhe. Als ich diese für mich neue Beschäftigung aufnahm, wandte ich mich um Rat an V.B.Baschanovw und erhielt am 20. Juli 1856 von ihm folgendes Antwortschreiben:

"Ich gratuliere Ihnen, – schrieb er mir –, zu der wunderbaren Aufgabe, unsere zukünftige Großfürstin in den Dogmen der Orthodoxen Kirche zu unterweisen, und freue mich, wie ich dem Großfürsten Michail Nikolajewitsch geschrieben habe, dass dies Ihnen übertragen wurde. Ich weiß nicht, warum Ihr Brief an mich eine Woche später ankam als der des Großfürsten, obwohl sie wahrscheinlich beide gleichzeitig abgesandt wurden. Sie möchten die Lektionen haben, die ich der jetzigen Kaiserin gab; ich schicke gerne nächste Woche alles, was bei mir verblieb, wenn die Braut nicht mit der Kaiserin Anfang August hierher kommt, wie manche meinen. Diese Lektionen sind Milch anstelle von fester Speise, die für spätere Zeit aufgehoben wurde. Ich rate Ihnen gemäß Ihrem Wunsch, sich beim Erstellen der Lektionen und überhaupt beim Unterricht in Gedanken in die Situation der Prinzessin zu versetzen und und sich väterlich oder gar mütterlich darum zu bemühen, ihr den Übertritt aus dem mütterlichen Glauben in die Orthodoxe Kirche zu erleichtern. Eifer in der Sache und eifriges Gebet zu Gott führen zweifellos zu dem gewünschten Ziel, was ich Ihnen vom ganzen Herzen wünsche.

Das Jahr meines Unterrichts mit der Prinzessin Cäcilie stellt eine der schönsten Erinnerungen meiner pastoralen Tätigkeit dar. Neben der gewogenen und freundlichen Aufnahme in der Familie der verwitweten Großherzogin, wo ich jeden Tag im Familienkreis essen musste, gereichte mir der fast tägliche Umgang mit meiner erlauchten Schülerin zu großer Genugtuung und gleichzeitig Freude angesichts des anfänglichen Gehorsams und der späteren äußerst lebhaften, aufmerksamen Anteilnahme, mit der sie meinen Erklärungen folgte. Mein Unterricht erfolgte in deutscher Sprache, und nur die Lesung der sonntäglichen Evangelien und die Erklärung der Liturgie geschah auf Slawisch. Dabei gestand mir die Prinzessin, die zu gleicher Zeit mit dem Lehrer J.O.Majchrowskij die russische Sprache erlernte, dass ihr die kirchenslawische Sprache sowohl einfacher als auch verständlicher erschien als die russische Literatursprache. Meine Lektionen veröffentlichte ich später in deutscher Sprache in einem Büchlein unter dem Titel: "Die russische Orthodoxe Kirche. Ein Umriss ihrer Entstehung und ihres Lebens". Zu der selben Zeit wurde für die Prinzessin unter meiner Leitung eine Übersetzung der Geschichte der Russischen Kirche von Murawiew angefertigt und in Karlsruhe gedruckt.

Doch bevor ich meinen Unterricht mit der Prinzessin im Winter in Karlsruhe begann, musste ich noch nach Zürich reisen, wohin die Großfürstin Olga Nikolajewna, die ihre kaiserliche Mutter nach Russland begleitet hatte, übersiedelt war. Ihrer Hoheit war es genehm, an ihrem Geburtstag, dem 30. August, bei sich einen Gottesdienst zu halten, wofür wir mit dem gesamten Klerus dorthin fuhren; ich nahm auch meine Kinder mit. Hier lernte ich unseren Gesandten V.P. Titow kennen, der sich ebenfalls mit seinem Sohn und Erzieher dort aufhielt. Hier ereignete sich eine Anekdote hinsichtlich der bekannten Zerstreutheit des Gesandten, die ihm alle so bereitwillig verziehen, die sein gutes Herz und seine ehrliche Haltung kannten. Wir speisten an diesem Tag mit ihm bei den Hoheiten, und bei Tisch erfuhr Titow, dass sich in Zürich gerade ein gelehrter Württemberger aufhielt, den übrigens der Erbprinz, der Gatte der Großfürstin Olga Nikolajewna, nicht sehr schätzte, ihn aber, um Titow einen Gefallen zu tun, am gleichen Abend einzuladen versprach. Titow war sehr erfreut und dankbar für diese Ehre, und damit verabschiedeten wir uns von ihren Hoheiten, um einen Spaziergang auf den Jütliberg zu unternehmen, von wo sich ein wunderbarer Blick auf die Berge des Berner Oberlandes eröffnet. Wir versammelten die Kinder und machten uns in großer Gesellschaft, teils auf Eseln, teils zu Fuß auf den Weg zu diesem Berg. Der Blick von dort war wirklich bezaubernd. Der Wirt des dort befindlichen Hotel-Restaurants nannte uns alle sichtbaren Berggipfel bei ihren Namen und fügte hinzu, dass man das alles natürlich bei Sonnenaufgang sehen müsse, wofür viele Touristen bei ihm übernachten, um bei Sonnenaufgang aufzustehen und diesen Anblick zu bewundern. Das reichte dem wissbegierigen Titow, um sich zu entschließen, die Nacht hier zu verbringen. So schickten wir unsere Kinder mit den Erziehern in die Stadt und blieben selbst auf dem Berggipfel. Am Abend erinnerte ich mich an die Einladung Titows zu dem Abend mit dem berühmten Deutschen, doch es war schon zu spät. Wir verbrachten ihn nach Titows Worten zugunsten der aufgehenden Sonne und kehrten am nächsten Tag in aller Ruhe in unser Hotel zurück, wo wir auf der Treppe von Angesicht zu Angesicht die Großfürstin Olga Nikolajewna trafen, welche uns halb scherzend und halb ernst mit den Worten begegnete: "Gut, und gestern Abend luden wir für Sie Ihren interessanten Deutschen ein!". Titow rechtfertigte sich, wie er konnte und erhielt zur Strafe die Einladung, sofort die Großfürstin zu Fuß durch die Stadt zu begleiten. Titow eilte nach oben, um sich umzuziehen, während ich mit der Großfürstin in den kleinen Garten des Hotels ging, wo wir in Erwartung Titows auf und ab gingen. Es vergingen Minuten, ohne dass der Gesandte kam. Schließlich ging ich nach oben und klopfte an seine Tür.

Keine Antwort. Ich frage das Zimmermädchen, ob er vielleicht irgendwohin gegangen ist. Man antwortete: "Er hat eben heißes Wasser verlangt und sich in seinem Zimmer eingeschlossen". Es stellte sich heraus, dass er auch hier die Einladung der Großfürstin vergessen hatte und sich in aller Ruhe mit seiner Morgentoilette beschäftigte.

Doch diese Aufrichtigkeit hinsichtlich der Kleinigkeiten des Lebens, verbunden mit ernster Aufmerksamkeit gegenüber den prinzipiellen und wichtigen Aufgaben, ließ seine Persönlichkeit, die voll von herzlicher Liebe zu allem Guten, Wahrhaften und Schönen war, umso anziehender erscheinen. Daher ist es verständlich, dass die Großfürstin Olga Nikolajewna, als die Kaiserin Maria Alexandrowna einen Erzieher für den Thronfolger, den Großfürsten Nikolaj Alexandrowitsch suchte, ihre Aufmerksamkeit auf V.P. Titow lenkte. Viele hielten diese Wahl für seltsam, besonders deshalb weil der eigene Sohn Titows als ungenügend erzogen galt. Doch das meinten nur diejenigen, die das Familienleben der Titows nicht aus der Nähe kannten, in dem seine eigene Persönlichkeit in der häuslichen Atmosphäre stark herausragte. Allerdings zeigte sich in der Folge, dass dieser hohen Berufung kein voller Erfolg beschieden war, da keine zwei Jahre vergingen, bevor Titow seinen Posten bei dem Thronfolger einem anderen überlassen musste.

 

 


Neue Maßnahmen für die Kirchensänger im Ausland

Als Ersatz für Titow kam zu uns als Gesandter Graf Benckendorf, der mit einer Preußin verheiratet war, und unser Gesandtschaftshaus verlor zeitweilig den Charakter eines russischen Hauses. Dies dauerte nicht lange an. Graf Benckendorf blieb nur zwei Jahre in Stuttgart und verstarb an Nervenzerrüttung in geistiger Umnachtung. Obwohl er in Paris verstarb, wurde sein Leichnam zur Beerdigung in die Familiengruft nach Stuttgart überführt. Bemerkenswerterweise war sein Vater auch Gesandter in Stuttgart, verlor hier seine Frau und beerdigte sie in dem Ort Heßlach bei Stuttgart, wo er eine kleine Kapelle errichtete, in welcher er neben den sterblichen Überresten seiner Frau beerdigt werden wollte. Doch es kam so, dass er als Angehöriger des Militärs, nachdem er seinen Posten als Gesandter verlassen hatte, während unseres Krieges mit Persien wieder in das aktive Heer eintrat und in einer Schlacht fiel. Aufgrund seines Vermächtnisses wurde sein Körper aus Persien nach Heßlach überführt, wo er in der von ihm erbauten Kapelle beigesetzt wurde, und dreißig Jahre später fand sein Sohn, der ebenfalls in Stuttgart Gesandter war, seine letzte Ruhestätte in eben dieser Familiengruft.

In dem gleichen Jahr 1856 entstand in mir der gute Gedanke hinsichtlich der Kirchensänger im Ausland, der im folgenden Jahr seine offizielle Verwirklichung fand. Als ich 1851 meinen Dienst in Stuttgart antrat, fand ich bei der hiesigen Kirche zwei alte Psalmisten, die keinerlei Bildung besaßen und nur in der Weise der Kirchendiener lesen und singen konnten. Ich erinnere mich, wie einer von ihnen damit prahlte, dass er die Psalmen so singen kann, dass niemand das Gelesene versteht. Das war gerade im Winter 1856-1857, als der Großfürst Michail Nikolajewitsch nach Karlsruhe zu seiner Braut kam und anläßlich der großen Fastenzeit dort einen Gottesdienst wünschte. Wir hatten eine bewegliche Kirche, die früher in der Gesandtschaft war und jetzt nicht benutzt wurde, nachdem die Großfürstin Olga Nikolajewna ihre eigene Kirche mitgebracht hatte, und diese stellten wir in einem der Säle des Hofes auf und begannen dort die Gottesdienste. Einmal stand der Großfürst während der Stundenlesungen hinter dem Psalmisten und schaute auf das Buch, aus dem dieser die Stunden las, und hier zeichnete sich mein oberschlauer Psalmist aus und las so, dass man nichts verstehen konnte! Und wahrlich, was für unmögliche Psalmisten und Kirchendiener hatten wir im Ausland! Nicht von ungefähr ließ man sich bei der Abfahrt zu ihrem Dienst im Ministerium unterschreiben, dass sie im Falle schlechten Benehmens nach Russland zurückgeschickt und zu Soldaten gemacht würden. Mich regte besonders auf, dass die Ausländer sie als Kandidaten für das Priestertum betrachteten, während ihre undurchdringliche Ignoranz und das entsprechende Benehmen einen äußerst dunklen Schatten auf unsere Geistlichkeit warf, die sich ohnehin keiner besonderen Achtung unter den Ausländern erfreute. Deshalb entschloss ich mich auch, darauf zu bestehen, dass als Psalmisten im Ausland nur Personen mit höherer theologischer Bildung eingesetzt würden. Doch in jener Zeit war es sehr schwer, auch nur die einfachsten Maßnahmen durchzuführen, die, wenn auch noch so vernünftig, als Neuerung erschienen und die Jahrhunderte lange Routine durchbrachen. Ich versicherte mich im Voraus des Einverständnisses der Großfürstin und schrieb zunächst an den Protopresbyter Baschanow mit der Bitte, die Ansicht des Synods zu der geplanten Reform in Erfahrung zu bringen. Baschanow antwortete mir darauf, wie auch auf einige andere Gedanken, im Brief vom 2. November 1856 folgendes: "Ich bin Ihnen äußerst dankbar für Ihren interessanten Brief und bitte Sie, mir all Ihre Gedanken und Bemerkungen, die unsere Kirche betreffen, mitzuteilen. Ich bitte Sie darum nicht, weil ich mit Ihren Vorstellungen übereinstimme und sie zur Ausführung bringen könnte, sondern ich kann sie anderen weiterreichen, und unsere Gedanken würden über die Wiederholung allmählich zum Allgemeingut und würden der Verwirklichung nahe kommen. Ich hoffe, dass die freiwerdenden Stellen für Psalmisten in unserer Kirche im Ausland von Studenten der Priesterseminare besetzt werden. Ich hielte es für vorteilhaft, wenn einige der Kirchen Diakone hätten, die nach einigen Jahren die freiwerdenden Priesterstellen an der einen oder der anderen Kirche würdig besetzen könnten".

Nachdem ich mich einer solchen Meinung eines der einflussreichsten Mitglieder unserer Hierarchie versichert hatte, überreichte ich im folgenden Jahr bei meinem Aufenthalt in Petersburg dem Fürsten Gortschakow zu diesem Thema folgende Notiz:

"Bisher wurden als Psalmisten für unsere Kirche im Ausland solche Personen ausgewählt, die nur singen und lesen konnten, wobei auf ihre geistige Bildung nicht geachtet wurde. Als Folge davon geben sich diese Personen, die ein gutes Gehalt beziehen (mindestens 500 Rubel) und keine großen dienstlichen Verpflichtungen haben, in der Mehrzahl einem liederlichen Leben hin. Da sie durch ihre Bildung nicht vorbereitet sind, können sie sich lange nicht mit der Sprache und der Lebensweise des Landes vertraut machen, in dem sie leben und geben sich, losgelöst von verwandtschaftlichen Beziehungen, der Langeweile und verzweifeltem Müßiggang hin, welche manchmal, wie einige Beispiele beweisen, bis zum Wahnsinn führen. Wenn es auch geschieht, dass sich einige von ihnen an einem bestimmten Platz einleben, so entfremden sie sich allmählich in der Trennung von der Heimat von allem Russischen, besonders in den Fällen, in denen sie Ausländerinnen heiraten. Auf diese Weise bringen diese Menschen nicht den Nutzen, den man von ihnen erwarten könnte, wenn sie vor der Abreise ins Ausland einen gewissen Bildungsstand erreichten. Daher wäre es wünschenswert, dass unsere Regierung ihre Aufmerksamkeit auf diese Frage lenkte und die Posten der Psalmisten im Ausland für die Vorbereitung würdiger Diener der Kirche nutzen würde. Vielleicht würden auch Studenten der Akademie diese Posten nicht ablehnen, da das Gehalt eines Psalmisten im Ausland dasjenige eines Lehrers im Seminar übertrifft. Damit jedoch junge Menschen gerne solche Posten annehmen, müsste man ihnen eine gewisse Zukunft eröffnen, und erstens, die Dienstzeit im Ausland auf nicht mehr als 5 oder 7 Jahren ansetzen und unter keinen Umständen zulassen, dass jemand länger als 10 Jahre dort bleibt; zweitens, müsste man ihnen Diakons- oder Priesterstellen in den Hauptstädten versprechen, wo man besonders auch im geistlichen Stand Menschen braucht, die das europäische Leben kennen gelernt haben; drittens, den Vorstehern der Kirchen im Ausland die Möglichkeit überlassen, diese jungen Menschen auf dem Gebiet ihrer Bildung in fremden Ländern anzuleiten und jährlich über sie Berichte verlangen hinsichtlich ihrer Führung wie auch ihres Eifers zur Erreichung des vorgegebenen Ziels. Man kann völlig darauf vertrauen, dass unter solchen Umständen junge Leute die ihnen auferlegte Tätigkeit als Psalmisten in Ehren erfüllen werden, was im Ausland besonders wichtig ist, wo man unsere Kirchendiener nicht selten mit den Priestern verwechselt, indem man sie für Kapläne oder Gehilfen der Priester beim Vollzug der Sakramente hält".

Diese Meinung wurde von dem verstorbenen Kaiser Alexander II. angenommen und bekräftigt und im Außenministerium als Richtlinie für die Bestellung von Psalmisten im Ausland verwandt. Zum ersten Mal (das war 1861) gelang es mir, diese Maßnahme bei unserer Kirche in Stuttgart zur Anwendung zu bringen, wo alle alten Psalmisten pensioniert wurden und ihre Posten durch den Magister der Theologie Gortschakow und den Kandidaten Rozanow von der St. Petersburger Geistlichen Akademie besetzt wurden. Um noch mehr zur Besetzung der Psalmistenstellen im Ausland anzureizen, erlangte ich bei der geistlichen Oberbehörde die Erlaubnis, dass dieser Dienst vom Unterrichtsministerium anerkannt wurde. Daher wurden sie unter Bewahrung ihrer Rechte und Vorteile gemäß ihren akademischen Graden eingesetzt, weshalb sie auch ihre Uniformröcke unter den Chorgewändern trugen und tragen (zumindest in Stuttgart) und in diesen Röcken bei festlichen Anlässen erscheinen, wie z.B. in Stuttgart bei der allgemeinen Gratulation der Königin zum Neujahr oder zu anderen Anlässen. Diese in sich so nützliche Maßnahme stieß zunächst nicht bei allen Vorstehern der Kirchen im Ausland auf Wohlwollen. Nur Vater Janyschew in Wiesbaden wandte sie bei der ersten sich bietenden Gelegenheit bei sich an. Aber mein Beispiel überzeugte bald alle von dem zweifellosen Nutzen dieser Neuerung, und jetzt wird sie mit wenigen Ausnahmen überall im Ausland praktiziert. Besonders das Beispiel meines ersten Psalmisten M.I. Gortschakow musste allen deutlich vor Augen führen, dass junge Kandidaten der Theologie auf Psalmistenstellen im Ausland ihre Aufgabe nicht nur mit Ehre erfüllen konnten, sondern ihre Zeit zur eigenen Weiterbildung in der Theologie nutzen konnten. Der Psalmist M.I. Gortschakow besuchte während seines vierjährigen Auslandsaufenthaltes Vorlesungen der Tübinger Universität und hatte auch Zeit zum Besuch anderer deutscher Universitäten und promovierte nach seiner Rückkehr nach Russland zum Doktor der Jurisprudenz und Universitätsprofessor und schließlich auch zum Doktor der Theologie.

 


Vater Janyschew

1857 verlor ich meinen guten Nachbarn und Nachfolger im Amt in Wiesbaden, den sehr verehrten Vater Janyschew, der zum Theologieprofessor an der Petersburger Universität ernannt wurde. Die Neuerung geschah teilweise auf mein Betreiben, da ich in meiner Korrespondenz mit leitenden Persönlichkeiten unaufhörlich auf die Notwendigkeit hinwies, dass anstelle der Religionslehrer an den Universitäten, die sich in nichts von den Religionslehrern an Gymnasien unterschieden, eine besondere theologische Fakultät eingerichtet werden musste mit einem höheren Studiengang, nicht so sehr im Sinne der Dogmatik, als viel mehr der Polemik oder besser einer allgemeinen Übersicht über die christlichen Grundlagen und besonders die orthodoxe Kirche. Eine bessere Persönlichkeit als Vater Janyschew konnte man zur Erfüllung dieses Programms kaum finden. Er vereinte in sich weitreichende und aufgeklärte Ansichten zur Wissenschaft mit Gründlichkeit und Eifer in der Erfüllung seiner Pflichten. Leider überstieg dieser Eifer seine physischen Kräfte, und er musste nach einem glänzenden Beginn seiner Tätigkeit dieselbe bald aufgeben und Vater Polisadow seinen Lehrstuhl übergeben, der damals als Priester in Berlin war. Selbst übernahm er dessen Platz im Ausland. Nach Wiesbaden wurde unter dessen Vater Matwejewskij aus Stockholm versetzt.

Zum Frühjahr 1857 erwartete man in Karlsruhe die Ankunft des Großfürsten Michail Nikolajewitsch, und im Sommer sollte aus Nizza die Kaiserin Alexandra Feodorowna kommen. Unterdessen näherte sich mein Unterricht mit der Prinzessin ihrem Ende, und ich begann, mit ihr die Vorbereitung auf ihre Aufnahme in die Orthodoxie und die Myronsalbung. Da sich die Prinzessin als Patin die Großfürstin Olga Nikolajewna ausgesucht hatte, entschloss sie sich, ihren Namen von Cäcilie auf Olga zu ändern, um sich in Russland nach ihrem Vater Leopold-Friedrich Großfürstin Olga Feodorowna zu nennen.

 


Wildbad

Der kleine Ort Wildbad hatte niemals einen derart glänzenden Treffpunkt dargestellt wie in diesem Sommer 1857. Aus Anlass des dortigen Aufenthaltes der Kaiserin Alexandra Feodorowna und mit ihr der Familie der hochgeborenen Braut des Großfürsten und unserer Großfürstin Olga Nikolajewna war der Andrang erlauchter Persönlichkeiten aller deutscher Fürstenhöfe, die kamen, um der Kaiserin ihre Ehrerbietung zu erweisen, so groß, dass sie Schlange stehen mussten. Man entließ die einen und empfing an ihrer Stelle die anderen; nur so konnte man Platz zu ihrer Unterbringung finden. Im Juli kam nach Wildbad aus Kissingen auch der Kaiser Alexander Nikolajewitsch mit der Kaiserin Maria Alexandrowna. Bei dieser Gelegenheit waren fast alle Berühmtheiten jener Zeit zu sehen, die von überallher nach Wildbad kamen, um sich den erlauchten Herrschern vorzustellen. Unter anderen lernte ich hier den berühmten Maestro Rossini kennen. Er interessierte sich sehr für unseren Kirchengesang, und wir gewährten ihm das Vergnügen, unsere Sänger zu hören, von denen er sich außer kirchlichen Gesängen auch einige Volkslieder erbat, die ihn in Begeisterung versetzten. Der Aufenthalt der kaiserlichen Familie in Wildbad gab Anlass zu vielen Vergnügungen und Feierlichkeiten ...

 


Peterhof: Myronsalbung und die Vermählung der Großfürstin Olga Feodorowna

Unterdessen reifte die Zeit für die Abreise der kaiserlichen Familie nach Russland, wohin auch die auserkorene Braut des Großfürsten folgen sollte. Ich als ihr Religionslehrer, sollte ihre Hoheit begleiten, um bei ihrer Myronsalbung und dann auch bei ihrer Hochzeit anwesend zu sein. So begaben wir uns Mitte Juli im Gefolge der Kaiserin auf die Reise. Unterwegs machten wir für einige Tage in Potsdam Station, wo mir eine Wohnung in einem der Flügel von Sanssouci angewiesen wurde. Als Angehöriger des Gefolges der Kaiserin wurde ich mit allen Mitgliedern ihrer Gefolgschaft zur Tafel der preußischen Hoheiten eingeladen und machte bei dieser Gelegenheit die Bekanntschaft des berühmten Humboldt, welcher damals schon ein ehrwürdiger kleiner Greis, gewöhnlich ein unumgängliches Attribut aller Zusammenkünfte am preußischen Hof darstellte.

Während des Aufenthaltes in Potsdam lernte ich auch die so genannte russische Kolonie Alexandrowka unweit von Potsdam näher kennen. Der Anblick dieser Kolonie erinnert auf den ersten Blick tatsächlich an ein russisches Dorf. Die sauberen Häuschen im russischen Stil mit einer russischen Kirche in der Mitte lassen einen sich auf einen Moment vergessen und denken, dass man sich in Russland befindet. Doch als mich der damalige Berliner Erzpriester und Vorsteher dieser Kirche, D.V. Sokolow, durch die Häuser führte, um mir das innere Leben der Kolonisten zu demonstrieren, fanden wir uns unter reinen Deutschen. Nicht nur dass niemand von ihnen auch nur ein russisches Wort verstand, sondern beinahe alle waren sie Protestanten geworden. Zunächst gingen nach den Worten von Vater Sokolow in seiner Zeit einige der alten Leute in unsere Kirche. Doch dann, durch Heirat mit deutschen Frauen und zum Teil – muss man annehmen – auch wegen der mangelnden Sorge unserer Berliner Priester, entfernten sie sich allmählich von unserer Kirche, die jetzt wegen Mangels an Gläubigen leer steht.

Schließlich fuhren wir von Stettin auf zwei Schiffen nach Russland. Auf einem der Schiffe befand sich die kaiserliche Familie, auf dem anderen – das Gefolge. Nach einer guten Überfahrt kamen wir direkt nach Peterhof, wo der Kaiserin und der auserkorenen Braut ein festlicher Empfang bereitet wurde. Ich begann mit der Prinzessin Cäcilie die Vorbereitungen auf ihre Myronsalbung und Eheschließung.

Die Myronsalbung, der Unterricht und die Vermählung fanden mit aller Festlichkeit in der großen Kirche des Winterschlosses statt. An all diesen Zeremonien nahm ich in meiner Eigenschaft als Religionslehrer und geistlicher Vater der jungen Großfürstin teil und wurde darauf mit Auszeichnungen überschüttet. So erhielt ich nach der Myronsalbung zwei Brillantkreuze, eines vom Großfürsten, das andere aus dem Kabinett seiner Hoheit; nach der Eheschließung noch zwei Kreuze, noch wertvollere, ebenfalls von den Neuvermählten und vom Kaiser. Zuvor hatte mir die Badener Großherzogin, die Mutter der Großfürstin Olga Feodorowna, eine goldene und mit Brillanten besetzte Tabakdose mit ihrem Porträt geschenkt, und der Großherzog zeichnete mich mit seinem Orden des Zähringer Löwen zweiter Klasse aus.

Da ich in jener Zeit viele ausländische Orden zu erhalten begann (ich hatte württembergische, badische, bayerische, nassauische und weimarische) und jedes Mal zur Annahme dieses Ordens die kaiserliche Erlaubnis erbitten musste, wandte ich mich an den damals amtierenden Oberprokuror des Hl. Synods, Graf Tolstoj. Er wollte scherzen und bemerkte: "Was ist das? Sie werden bald mit allen Tieren behangen sein, hier ein Adler, dort ein Löwe!" Doch er hätte besser scherzen können, hätte er gewusst, dass ich aus Anlass der Bekehrung einer protestantischen Prinzessin zur Orthodoxie einen Orden erhalten hatte, in dessen Statuten steht, dass er vorzüglich für den Eifer in der Verbreitung des protestantischen Glaubens verliehen wird.

Ich Schloss meine Angelegenheiten bei Hofe ab und wollte vor meiner Rückkehr zu meinem Dienst in Stuttgart noch etwas durch Russland reisen, welches ich zu meiner Schande so wenig kannte, wogegen ich inzwischen fast ganz Deutschland kreuz und quer bereist hatte. So stellte ich mit dem damals zu unserer Gesandtschaft in Stuttgart gehörenden Fürsten S.P. Golitzyn einen Reiseplan auf; wir wollten die Wolga hinunter bis nach Saratow fahren, und sodann in das Gouvernement Tschernigow auf das Gut der Golitzyns, wo ich mich etwas aufhalten wollte, um mit dem russischen Dorfleben vertraut zu werden, welches ich nie gesehen hatte.

 


Napoleon und der Kaiser in Stuttgart – Fürst und Fürstin Wjazemskij

Als wir schon zur Abreise bereit waren, rief Fürst Gortschakow uns beide ins Ministerium und eröffnete uns, dass wir umgehend nach Stuttgart zurückkehren müssten, da dort in einigen Tagen ein Treffen zwischen Kaiser Napoleon III. und unserem Herrscher stattfinden würde und sich daher alle in Stuttgart Diensttuenden auf ihren Posten zu befinden hätten. So musste ich mich sowohl von dem geplanten Projekt als auch von der Heimat verabschieden und ins Ausland eilen. Den Fürsten Golitzyn schickte man sogar mit dem Kurier nach Stuttgart, und ich fuhr nach Moskau, um von dort aus mit der Postkutsche nach Warschau zu reisen; von dort gab es bereits eine durchgehende Eisenbahnverbindung nach Stuttgart. Nachdem ich ganze achte Tage fast ohne Unterbrechung in der Postkutsche gesessen hatte, war ich froh, einen bequemen Waggon zu finden, in dem ich es mir fast so bequem wie daheim machte. Ich rechnete mir aus, dass ich nach drei Tagen, genau am Vorabend der Ankunft des Herrschers in Stuttgart eintreffen würde. Von der langen Reise ermüdet, schlief ich jedoch in der Nähe von Frankfurt so fest ein, dass ich überhörte, dass ich hier hätte aussteigen müssen. Als der Schaffner kam, und meine Fahrkarte verlangte, stellte sich heraus, dass ich nach Kassel, also genau in der entgegen gesetzten Richtung fuhr. Das Ende dieses Versehens war, dass man mich am nächsten Bahnhof absetzte und mich für die unnötig gefahrene Strecke zahlen ließ. Nachdem ich alle Eilzüge verpasst hatte, musste ich mich langsam zurückquälen, wodurch ich einen ganzen Tag zu spät nach Stuttgart kam. Beim Verlassen des Bahnhofs in Stuttgart, der dort mitten in der Stadt liegt, sah mich gerade der Herrscher, der dort eben vorbeifuhr und mich, als er mich erkannte, huldvoll begrüßte. Bei Hofe war man inzwischen schon beunruhigt, dass ich nicht rechtzeitig zur Stelle war, doch die erste Nachricht von meiner Ankunft überbrachte dort der Herrscher selbst.

Die Tage des Zusammentreffens von Napoleon und unserem Herrscher stellen in der Chronik Stuttgarts einen strahlenden Zeitabschnitt dar. Neben der hochpolitischen Bedeutung eines Treffens der beiden mächtigsten Herrscher jener Zeit kurz nach dem Krimkrieg, das durch die weise und geschickte Politik unseres berühmten Kanzlers zustande gekommen war, verblüffte mit seiner Großartigkeit schon der äußere Glanz, der in der sonst bescheidenen Hauptstadt Württembergs erstrahlte.

Ganz zu schweigen von dem Gefolge von Persönlichkeiten, das sich zu diesem Treffen versammelt hatte und das nicht nur mit Uniformen sondern auch durch den Ruf von Verdiensten um den Staat glänzte, erstaunte eine gewisse Anzahl von Hoheiten, die von verschiedenen Seiten zusammengekommen waren, mit ihrer Ungewöhnlichkeit. So bemerkten die Stuttgarter Chronisten, dass bei der Galavorstellung in ihrem Theater neben zwei Kaisern und ihrem König drei Königinnen, nämlich die Königinnen von Württemberg, von Holland und von Griechenland, sowie eine Kaiserin, Maria Alexandrowna, teilnahmen, ohne die Großfürstinnen und Prinzessinnen hierbei mitzuzählen. Es heißt, Napoleon sei bei seinem Eintreffen auf dem zu seinen Ehren veranstalteten Ball in Wilhelm, der Sommerresidenz des Königs von Württemberg, im Kreise dieser strahlenden Gesellschaft so verlegen gewesen, dass er sich erst von der Stelle rühren konnte, als unser Herrscher auf ihn zuging und ihn bei der Hand nahm und zur Kaiserin führte. Vor dem Eintreffen Napoleons in Stuttgart wusste keiner, ob er alleine kommen, oder ob er seine Gemahlin Eugénie ebenfalls mitbringen würde. Unsere Kaiserin verblieb deshalb in Darmstadt und dachte nicht daran, nach Stuttgart zu kommen, wenn zusammen mit Napoleon die Gräfin Montego, die nun den Titel Kaiserin trug, käme.

Aber mit der ihm angeborenen Schläue und Heuchelei legte Napoleon während des gesamten Aufenthaltes in Stuttgart so viel Bescheidenheit und Friedfertigkeit an den Tag und überraschte damit alle, dass er sich in Anwesenheit unseres Herrschers nicht eher setzen wollte, als man ihn dazu aufforderte. Gegenüber unserer Kaiserin und der Großfürstin Olga Nikolajewna geriet er übrigens ganz in Verlegenheit. Nachdem er sich selbst als Parvenu bezeichnet hatte, fand er sich zum ersten Mal im Leben der Größe wahrhafter Hoheiten gegenübergestellt.

Der stille und ruhige Winter des Jahres 1857/58 war für die Betätigung günstig, und die damals beginnende Unruhe der Gemüter in Russland regte zum Denken und Überlegen an. Zu jener Zeit brannte ich darauf, etwas zu tun, konnte es jedoch nicht. Das Schicksal hielt mich unerbittlich im ordentlichen Zimmer meiner Stuttgarter Wohnung fest. Und wiederum bekam ich die Möglichkeit, nach Russland umzuziehen. Großfürstin Olga Nikolajewna wollte mich als Beichtvater bei sich behalten. Dieses Mal jedoch verhielt ich mich dem für mich wünschenswerten Umzug gegenüber passiv und überließ die Lösung dieser Frage dem höchsten Willen. In Anbetracht des Vermächtnisses des verstorbenen Herrschers Nikolaj Pawlowitsch “Behüten Sie meine Olenka”, wagte ich es nicht mehr freiwillig, meinen Posten zu verlassen und konnte, als Großfürstin Olga Nikolajewna meine eigenen Ansichten zum Dienst bei ihr oder in Russland erkundete, nur ganz bewusst antworten, dass es mir bei ihr nur zu gut gehe und es nur zu bequem wäre und ich mich danach sehne, einen, wenn auch nur kleinen Teil der Bürde des derzeitigen Kampfes, von dem alle und jeder in Russland erfasst sind, mit zu tragen. Sie antwortete mir darauf, dass ich an meinem Platz aktiv an der gemeinsamen Sache teilnehmen könne und dies sogar mit größerem Nutzen, indem ich von hier aus die von der historischen Erfahrung errungenen Ergebnisse der Kultur und Zivilisation auf den Boden der Heimat hinübertrage.

"Schreiben Sie Ihre Gedanken nieder, tun Sie Ihre Eindrücke kund und Sie werden damit an der gemeinsamen Sache teilhaben", sagte sie.

Und ich befolgte diesen guten Rat, indem ich mich anschickte, zu arbeiten und zu schreiben. So sandte ich zu Beginn des Winters auf den Namen des Oberprokurors des Synods, des Grafen Tolstoj, zusammen mit Anmerkungen über die Konferenz der evangelischen Kirche, die in Stuttgart stattgefunden hatte, den Entwurf einer neuen Kirchenzeitung, der auf Grundlagen beruhte, die bis dahin in unserem theologisch-kirchlichen Zeitungswesen unbekannt waren.

Daraufhin antwortete Graf Tolstoj mir: "Euer Brief, den ich zusammen mit den Anmerkungen erhalten habe, und in dem Ihr die Herausgabe einer neuen Kirchenzeitung vorschlagt, ist sehr interessant und traf zur rechten Zeit ein. Derzeit wird bei uns viel an der Herausgabe einer neuen Kirchenzeitung gearbeitet. Beginnend mit diesem Jahr haben wir verschiedene Verbesserungen bei allen unseren Zeitungen, die an den geistlichen Akademien erscheinen, vor. Leider ist Euer Brief mit den Anmerkungen über die von Euch vorgeschlagene Herausgabe einer geistlichen Zeitung Seiner Heiligkeit abhanden gekommen, wie er in seinem Brief erklärt. 

Solltet Ihr das Manuskript noch besitzen, bitte ich Euch, es abzuschreiben und es mir zuzuschicken. Wenn nicht, macht Euch die Mühe, Euere Gedanken erneut darzulegen, da sie bei den zukünftigen Überlegungen bezüglich Zeitungen von Nutzen sein können, selbst wenn es sich als ganz unmöglich herausstellen sollte, Eure Vorschläge in die Tat umzusetzen."

Der verstorbene Metropolit Grigorij schien die Angewohnheit zu haben, ihm zugesandte Manuskripte zu verlegen und ich meinerseits, der noch aus den Zeiten der Akademie her die unrühmliche Angewohnheit hatte, meine Aufsätze sofort ins Reine zu schreiben, musste daher, als ich bereits nach dem Tode des Metropoliten Grigorij durch das Konsistorium gefragt wurde, ob ich das Manuskript einer Notiz über die religiöse Bewegung im Westen im Zusammenhang mit den politischen Ereignissen der letzten Jahre, das ich dem Metropoliten ebenfalls übersandt hatte, noch hätte,  antworten, dass dieser Artikel von mir zu einer Zeit geschrieben worden war, als die Eindrücke der Ereignisse, die sich vor meinen Augen abspielten, noch frisch waren und dass eine Zweitschrift dem nochmaligen Erleben einer fernen Vergangenheit gleichkäme.

Fürst Peter Andrejewitsch (Wjazemskij) machte sein Versprechen wahr und besuchte mich im Laufe des Sommers auf dem Rothenberg. Als ich dort mit ihm um unsere Kirche spazierte, von wo sich nach allen Seiten ein wunderbarer vielfältiger Blick eröffnet, wollte ich seinen poetischen Nerv ansprechen.

“Ich will Ihnen erzählen, Fürst”, sagte ich, “was ich einmal träumte. Vor dem Schlafengehen las ich im Evangelium von dem Wunder, als Jesus Christus die Wellen auf dem See beruhigte, und ich schlief über den letzten Worten ein: 'Was seid ihr so furchtsam? Wie habt ihr so wenig Glauben?' (Mk. 4, 40). Die metrische Form dieses Verses prägte sich mir so tief in meine Vorstellung ein, dass ich, glaube ich, ihn die ganze Nacht im Schlaf wiederholte, bis sich schließlich gegen Morgen ein ganzes Gedicht zu diesem Thema in meiner Vorstellung geformt hatte. Ich durchlief zunächst so lebendig und mit so feinen Versen das ganze Leben des Menschen, sodann die gesamte Weltgeschichte, wobei ich jeden Teil mit dem Refrain Schloss: 'Was seid ihr so furchtsam? Wie habt ihr so wenig Glauben?' dass ich mir, nachdem ich aufgewacht war, dieses wunderbare Gedicht deutlich vorstellte. Ich sprang sogar vom Bett auf mit der Absicht, das alles auf Papier niederzuschreiben. Doch bei der ersten Bewegung des Kopfes verschwand alles wie ein Traum, und ich war außerstande, mir auch nur ein einziges Wort aus diesen erhabenen Versen ins Gedächtnis zu rufen, in die mein wunderbares Gedicht so leicht geflossen war. Das ist die Grundlage, Fürst, auf der wir mit Ihrem dichterischen Talent ein ausgezeichnetes Werk wiederherstellen könnten!”

Wjazemskij knurrte wie immer, als er meine angeregte Erzählung hörte, und sagte nach kurzen Nachdenken: “Ich fürchte, das geht über meine Kräfte”. Dennoch wartete ich lange und verfolgte jedes neue Werk von ihm in der Hoffnung, dass seine Seele auf dieses reiche Thema für ein dichterisches Werk eingehen würde. Doch das Warten war vergeblich. 

Bald danach ereilte den Fürsten Wjazemskij die Krankheit, die ihn mit zeitweiligen Unterbrechungen bis zu seinem Tode nicht mehr losließ. Dabei ist bemerkenswert, dass jedes Erwachen seines Geistes aus der Umnachtung von einem neuen Werk seines dichterischen Genies begleitet war. Als er sich einmal im äußerst traurigen Zustand seelischer Verwirrung in Dresden befand, sandte er plötzlich nach Stuttgart auf den Namen der Großfürstin Olga Nikolajewna das anonyme Gedicht: “Butterwoche im fremden Land”. Niemand konnte denken, dass dieser fröhliche Scherz aus der Feder des Fürsten Wjazemskij entspringen konnte, von dem alle wussten, dass er sich beim Arzt für seelisch Kranke befindet, bis ein Vers in diesem Scherz: “die Brezel ist mein Namensvetter” daran erinnerte, dass Brezeln bei uns unter dem Namen Wjazemskij bekannt sind, und dass der Autor dieses Gedichts niemand anderes sein konnte als eben Fürst P.A. Wjazemskij. Nachforschungen ergaben, dass dies tatsächlich so war, und dass der Kranke von diesem Moment an wieder gesund wurde. Doch dann vergingen Monate und Jahre, in denen der arme Dichter wieder in seinen traurigen Zustand verfiel. 

Ich sah den Fürsten zweimal in diesem krankhaften Zustand. Einmal war dies in Stuttgart, wo er mit seiner Gattin einen Teil des Winters verbrachte. Ich komme in das Hotel, in dem sie abgestiegen waren, und finde zu meinem nicht geringen Erstaunen die Fürstin auf einer Bank vor der von ihnen benutzten Wohnung im Korridor sitzend.

“Was ist passiert, Fürstin?”, frage ich. “Nun, er hat mich aus dem Zimmer gejagt”, antwortete sie ganz ruhig. 

Seltsam! Während seiner finsteren Stimmung machte der Fürst nur seine Frau zum Opfer seiner Erregbarkeit, wogegen er allen anderen gegenüber freundlich war, ja nicht einmal seinen Dienern ein unwirsches Wort sagte. Anlass zu den Ausfällen gegen die Fürstin war die Eifersucht. Die Fürstin war um zwei Jahre älter als er und wurde von ihrem kranken Mann der ehelichen Untreue verdächtigt. Doch mit welcher wahrhaft christlichen Geduld, mit welcher Liebe ertrug sie diese krankhaften Anfälle ihres Mannes. Ich erlebte das, als ich einige Jahre später auf besonderen Wunsch der Großfürstin Olga Nikolajewna den erkrankten Fürsten wieder in Bonn besuchen musste. Dieses Mal befand er sich im allertraurigsten Zustand seiner Geisteskrankheit, und der Arzt, in dessen Anstalt er sich befand, trennte ihn vom Umgang mit allen, weshalb man auch mich nicht zu ihm ließ. Ich konnte mit der Fürstin nur unbemerkt aus dem Fenster beobachten, wie er im Garten spazieren ging und mit sich selbst sprach. Als man ihn wieder in sein Zimmer führte und einschloss, nahm die Fürstin einen Stuhl und setzte sich auf dem Korridor vor der Zimmertür und legte das Ohr an das Schlüsselloch. Und so saß sie stundenlang und hörte zu, wie er mit sich selbst sprach.

Die Fürstin Wjazemskaja überlebte ihren Mann um einige Jahre, und noch im Alter von 96 Jahren war sie frisch an Geist und Verstand. Ich traf sie im Frühjahr 1886 in Baden-Baden einige Monate vor ihrem Tod. Sie erkannte völlig ihr Alter und sprach freimütig von ihrem bevorstehenden Tod – ohne Angst und Aufregung. 

“Den Tod fürchte ich nicht, – sagte sie –,  und ich bin bereit dazu. Eines nur stört mich, nämlich dass ich in einem so langen Leben so wenig Gutes getan habe. Meine Schwester, die Fürstin Tschetwertinskaja, lebte auch 90 Jahre und starb in dem Bewusstsein, in ihrem Leben viel Gutes für die Menschen getan zu haben!

Da erinnerte ich sie an das Kreuz, das sie zu Lebzeiten ihres Mannes getragen hatte, und daran, dass ihre selbstlose Ergebenheit an ihre Pflicht viele gute Taten wert sei, die sie Außenstehenden aus Mangel an eigenen schwierigen Lebensaufgaben hätte erweisen können. Die alte Dame nahm diese Bemerkung mit der ihr eigenen Bescheidenheit auf, ohne sich selbst, scheint es, der Größe ihres Lebenswerkes bewusst zu werden.

 


Gemeindeleben in Baden-Baden

Zum Frühjahr 1858 stand mir wegen der Abreise der Großfürstin Olga Nikolajewna nach Russland für den ganzen Sommer noch größere Einsamkeit bevor. Alle in Stuttgart ansässigen Russen fuhren in die Kurorte. Die russische Gesandtschaft bestand damals aus den nicht orthodoxen Deutschen Graf Benckendorf, Stoffregen, Baron Meyendorff. Zum Glück entstand in Baden-Baden der gute Gedanke, uns mit der Kirche und dem gesamten Klerus für die Dauer der Abwesenheit der Großfürstin aus Stuttgart zur Durchführung der Gottesdienste dort einzuladen. Diesen Gedanken nahm ich wie himmlisches Manna auf, da ich in seiner Verwirklichung reiche Befriedigung des mich quälenden Tatendranges erahnte; und deshalb unternahm ich alles in meinen Kräften Stehende, um diesen Plan zu verwirklichen. Da wir eine transportable Kirche besaßen, die früher in der Gesandtschaft benutzt und jetzt nicht gebraucht wurde, nachdem die Großfürstin eine neue Kirche mit allem liturgischem Zubehör mitgebracht hatte, fiel es uns leicht, unsere Kirche nach Baden-Baden zu bringen und sie in einem dafür angemieteten Raum aufzustellen. Nachdem wir also mit dem gesamten Klerus und sogar mit den Familien nach Baden-Baden gezogen waren, eröffneten wir dort die Gottesdienste am 1. Juli mit einer feierlichen Liturgie. Meine Erwartungen hinsichtlich einer regelrechten Gemeindetätigkeit gingen vollkommen in Erfüllung. Neben fast täglichen Gottesdiensten standen Zusammenkünfte mit nahe stehenden Menschen und vielseitige geistliche Aufgaben – all das war neu für mich, und ich fand darin Nahrung für die Entwicklung der pastoralen Tätigkeit in mir. Damals waren in Baden-Baden viele Russen, und bei dem damals üblichen Glücksspiel gab es einen dauernden Wechsel von Ankommenden und Abreisenden, so dass unsere Kirche immer mit Gläubigen gefüllt war. Wir richteten auch eine Geldsammlung zum Unterhalt der Kirche und ein Sparbuch ein, mit welchem der Psalmenleser sich zur Unterschrift an jeden Ankommenden wandte. Er praktizierte, wie sich in der Folge zeigte, diese Sammlung auf die, nach seiner Meinung, erfolgreichste Weise, indem er die Spender beim Roulette ansprach, besonders wenn er bemerkte, dass der Spieler am Gewinnen war. Einmal gelangte er auf diese Weise sogar an einen österreichischen Offizier, dessen slawischer Familienname ihn verleitet hatte, und hielt ihn für einen Russen, der durch seinen Gewinn von einigen Tausend Gulden eben die Bank gesprengt hatte. Dieser gab aus Freude und ohne genau zu wissen, zu welchem Zweck ihm die Spendenliste vorgelegt wurde, eine beträchtliche Summe für die Sammlung zugunsten unserer Kirche. Mit solchen rechten und unrechten Mitteln wurde in Baden-Baden im Laufe eines Sommers eine so beträchtliche Summe eingesammelt, dass nicht nur alle Ausgaben zum Unterhalt der Kirche und des Klerus gedeckt wurden, sondern sogar das Anfangskapital für die Errichtung einer ständigen Kirche angelegt wurde. Dafür wurde ein Komitee geschaffen, an dessen Spitze seltsamerweise zwei nicht orthodoxe Personen standen: die Fürstin Gagarina, geb. Pototzkaja, eine Katholikin, und Baron Mühlens, der mit einer Pochwisnjowa verheiratet war, ein Protestant. Doch der Eifer dieser Personen, die durch ihre verwandtschaftlichen Beziehungen in einer orthodoxen Sphäre lebten, wurde bald mit vollkommenem Erfolg gekrönt. Zunächst errichteten sie eine sehr bescheidene Hauskirche in einem angemieteten Gebäude. Zu Gottesdiensten luden sie an Werktagen den Priester aus Karlsruhe ein, und dann erbauten sie eine kleine Kirche, in der vorläufig der gleiche Karlsruher Priester die Gottesdienste durchführte, wenn er in seiner Kirche frei war. Doch bereits jetzt (1887) ist das durch Spenden angesammelte Kapital auf eine solche Summe gewachsen (ca. 100.000 Mark), dass die Kirche bald ihren eigenen Klerus erhalten kann. So können wir mit Genugtuung sagen, dass unsere zeitweiligen Gottesdienste in Baden-Baden 1858 die Grundlage zur Einrichtung einer ständigen Kirche in dieser Stadt legten, in der sich so viele Russen im Sommer einfinden und wo sich gar einige unserer Landsleute Häuser kauften und sich ansiedelten.

 


Ein Russe soll nicht in der Fremde sterben! 

Ein anderer, ähnlicher Versuch, eine ständige Kirche einzurichten, lief in demselben Sommer durch meine Hände, nämlich in Interlaken in der Schweiz. Ich wurde aus Baden-Baden dorthin zu einem Russen gerufen. Ich machte mich mit einem Psalmenleser dorthin auf den Weg und nahm zur Sicherheit ein Trauergewand mit, wie ich das immer praktizierte, wenn man mich, besonders aus Wiesbaden, zu Sterbenden an irgendeinen entfernten Ort rief. Es geschah fast immer so, dass man den Kranken in den letzten Zügen antraf, oder dass man ankam, wenn er bereits verstorben war. Diese Praxis reichte ich dann auch an meinen Nachfolger in Wiesbaden, Vater Janyschew, weiter, einmal sogar auf sehr markante Weise. Auf Veranlassung der Großfürstin Olga Nikolajewna fuhr ich nach Bonn, um den dort in einer psychiatrischen Anstalt befindlichen Fürsten P.A. Wjazemskij zu besuchen. Ich fuhr auf dem Rhein, und in Biebrich stieg Janyschew auf dasselbe Schiff zu.

– Wohin fahren Sie? – fragte ich ihn.

– Ja, ich wurde nach Bonn gerufen, um einem kranken Landsmann die Kommunion zu reichen.

– Und Sie fahren allein, ohne Psalmenleser und Gewänder?

– Ich fahre ja nur, um dem Kranken die Kommunion zu bringen. Und wenn ich Gewänder, und noch dazu Trauergewänder mitnehme, jage ich den Verwandten nur Angst ein! 

– Nun, sehen Sie zu, – sagte ich –, dass Sie nicht in Schwierigkeiten geraten, wenn der Kranke in Ihrer Gegenwart stirbt!

So geschah es auch. Als wir in Bonn eintrafen, war der Kranke bereits gestorben, und es musste ein Totengedenken gehalten werden. Aus Wiesbaden einen Psalmenleser und Gewänder zu holen, würde bedeuten, drei Tage zu warten. Der Leichnam aber sollte zur Beerdigung nach Russland geschickt werden. Unter diesen Umständen beschlossen wir, die Angehörigen nicht ohne den Trost der Gebete für den Verstorbenen zu lassen und zu zweit eine Panichida zu halten, Vater Janyschew in einem hellen Epitrachilion und ich als Psalmenleser. Genauso verhielt es sich auch in Interlaken, nur mit dem Unterschied, dass ich dorthin schon für alle Fälle vorbereitet fuhr. Den Kranken traf ich schon nicht mehr unter den Lebenden, und ich musste den Totengottesdienst für ihn halten. Da dieser einer der reichen Moskauer Kaufleute war, geriet seine Familie in Verzweiflung, weil es unmöglich war, alles so einzurichten, wie es bei einer orthodoxen Beerdigung üblich ist, und noch mehr deshalb, weil der Tote ohne Vorbereitung durch die Heilige Kommunion hatte sterben müssen. Es stellte sich heraus, dass sie lange nach einem Priester gesucht hatten. Sie telegraphierten zunächst nach Genf, ohne Antwort. Später zeigte sich, dass der dortige Priester abwesend war. Sie wandten sich nach Stuttgart, wieder ohne Antwort, da ich mich mit meiner Familie in Baden-Baden befand und meine Wohnung verschlossen war. Bis sie mich fanden und ich anreiste, war der Kranke bereits verstorben. Das betrübte die ganze Familie und sogar den Besitzer des “Hotel Ober” so sehr, dass dieser, natürlich nicht ohne eigennützige Absichten, sondern in der Hoffnung, russische Gäste in sein Hotel zu ziehen, sofort vorschlug, auf eigene Kosten eine transportable russische Kirche einzurichten. Er zeigte mir einen dafür sehr geeigneten Pavillon im Garten und bat mich nur, mich dafür einzusetzen, dass man ihm für drei Sommermonate aus Russland einen Priester zur Verrichtung der Gottesdienste senden würde. Ich wollte ihm schon zusagen, dass ich mich darum kümmern würde, wobei ich auf vollen Erfolg rechnete, als mir einfiel, dass ich mich in die Angelegenheiten einer fremden Gemeinde einmischte, da Interlaken in der Schweiz liegt, in deren Hauptstadt unsere Kirche ist, deren Vorsteher damals Vater Petrow war. Deshalb übergab ich ihm diese ganze Angelegenheit. Doch leider ließ er der Verwirklichung dieses Plans nicht nur keine Unterstützung zukommen, sondern er suchte im Gegenteil sogar, ihn zunichte zu machen, in der Überzeugung, dass dies ein völlig überflüssiges und zudem eigennütziges Unterfangen des Besitzers des “Hotel Ober” sei, und dass für einzelne seltene Fälle der Priester aus Genf immer nach Interlaken kommen könne. So wurde dieser Plan nicht verwirklicht. Doch Gott behüte die Russen davor, im Ausland zu sterben! Welche Not, welche oft beleidigenden Formalitäten müssen die Familien über sich ergehen lassen, nachdem sie ein geliebtes und nahe stehendes Geschöpf verloren haben! Gar nicht davon zu sprechen, dass kein westliches Volk auch nur das geringste Verständnis für die zärtliche Sorge um Verstorbene hat, zu welcher nur Russen fähig sind. Hier wartet man, ganz gleich in welchem Hotel jemand auch sterben mag, nicht einmal einen Tag, bevor man den Körper des Verstorbenen aus dem Haus entfernt.

Besonders in Kurorten, wohin Ausländer kommen, um neben der Behandlung eine angenehme Zeit zu verbringen, wird, wenn jemand im Hotel stirbt, der Leichnam schon wenige Stunden später möglichst heimlich, in der Dämmerung und in der Nacht in die Friedhofskapelle gebracht, wo er bis zur Beerdigung oder zur Überführung zur ewigen Ruhe in die Heimat aufbewahrt wird. Dabei gibt es um den Leichnam überhaupt nichts Orthodoxes, weder Kerzen um den Sarg, noch das Lesen des Psalters, oder die Anwesenheit der Verwandten, denn die Kapelle wird nachts geschlossen. Und wenn jemand es wagte, sich dieser gewohnten Ordnung zu widersetzen, um nach russischem Brauch den Leichnam bis zur Beerdigung in der Wohnung zu behalten, so müsste er dafür schwer bezahlen. In meiner Abwesenheit ereignete sich ein solcher Fall. Eine reiche russische Familie, die aus Bad Ems, wo die kranke Familienmutter zur Sommerkur weilte, nach Italien fuhr, übernachtete in Koblenz in einem der besten Hotels. Hier verstarb die kranke Mutter in dieser Nacht, und die Familienmitglieder antworteten auf die Forderung des Hoteliers, den Körper der Verstorbenen sofort aus dem Hotel zu entfernen, mit einer entschiedenen Absage. Sie erklärten, dass sie bis zur Überführung des Körpers nach Russland wofür mindestens drei Tage notwendig waren, nicht erlauben, die Verstorbene aus ihrem Zimmer zu entfernen. Der Hotelbesitzer verstummte, doch als alles beendet war, und die Familie sich mit dem Körper nach Russland auf dem Weg machte, überreichte er ihnen für diese drei Tage eine Rechnung über 30.000 Gulden. Diese Forderung begründete er damit, dass wegen der Anwesenheit des Leichnams in seinem Hotel in dieser Zeit nicht nur niemand Quartier nehmen wollte, sondern auch der Großteil der dort wohnenden Gäste das Hotel verlassen hätte; und dies zusammen mit den anderen Ausgaben, wie die Vernichtung des Bettes und der Möbel im Zimmer der Verstorbenen, wie auch die Notwendigkeit, die Tapeten zu erneuern, brachte ihm einen Verlust von der genannten Summe. Daraus entstand ein Prozess, der von unserer Gesandtschaft in Frankfurt unterstützt wurde, und bis zum höchsten Gericht in Berlin ging. Er endete damit, dass die von dem Hotelier geforderte Summe wohl verringert wurde, aber dennoch ein bedeutender Teil der Rechnung beglichen werden musste. So auch in Interlaken, als wir dorthin kamen und der Kranke schon gestorben war und auch sein Leichnam aus der luxuriösen Hotelsuite, die von der Familie in einem teueren Hotel gemietet wurde, entfernt war. Er wurde bei Nacht heraus getragen, um durch diesen traurigen Anblick die fröhlichen Gäste Interlakens nicht zu betrüben, und in eine kleine und erbärmliche Kapelle auf den Friedhof gebracht, wo man sich bei dem Totengedenken kaum bewegen konnte. Wenn man bedenkt, mit welcher Feierlichkeit und Pracht einer orthodoxen Ausstattung die Beerdigung dieses reichen Moskauers erfolgt wäre, wenn Gott ihn in der Heimat hätte sterben lassen, so wurde man unwillkürlich betrübt angesichts des mehr als bescheidenen Sarges, der auf zwei Bänken in irgendeinem ungetünchten Häuschen stand, nicht einmal von den allernotwendigsten Attributen einer Beerdigung umgeben. Doch hiermit waren die Qualen, die dieser Tote überstehen musste, der das Unglück hatte, im fremden Lande zu sterben, noch nicht beendet. Da der Leichnam zur Überführung nach Russland vorgesehen war, war es nötig, ihn einzubalsamieren; und da in Interlaken kein Arzt war, der dies tun konnte, musste man aus Bern einen Professor der dortigen Universität holen. In der Erwartung, dass dies lange Zeit in Anspruch nimmt, und da man mich bat zu warten, damit ich die letzte Panichida vor der Überführung des Körpers nach Russland halten könnte, beschloss ich, die Zeit zu einem kurzen Spaziergang in die malerische Umgebung Interlakens zu nutzen.

Als ich abends von meiner malerischen Wanderung zu der trauernden Familie nach Interlaken zurückkehrte, erfuhr ich von dem dort zurückgebliebenen Psalmenleser schreckliche Dinge, die sich mit dem unglücklichen Leichnam unseres Toten abgespielt hatten. Der Bote, der nach Bern gesandt worden war, um einen Arzt zur Balsamierung zu holen, kehrte mit der Nachricht zurück, dass wegen der Semesterferien alle Professoren verreist waren. Auf diese Weise war die Balsamierung des Körpers unmöglich, und ohnedies war die Überführung nach Russland ausgeschlossen, wofür alle Vorbereitungen bereits für den nächsten Tag getroffen waren. Da kam irgend jemandem die unglückliche Idee, den Körper in dem Bleisarg mit Schmalz zu übergießen und so auf den Weg zu schicken, wie man gerupfte Gänse verschickt. Und so begann man die furchtbare Operation, natürlich in Abwesenheit der Verwandten des Toten, die sonst eine solche Verhöhnung nicht geduldet hätten. Nur mein Psalmenleser war bei diesem abscheulichen Unternehmen zugegen, aber auch er konnte diesen Anblick nicht bis zum Ende ertragen. Als wir am nächsten Tag die letzte Panichida vor der Überführung des Leichnams vor dem bereits geschlossenen und in einen Kasten eingenagelten Sarg zelebrierten, von dem sich der Geruch geschmolzenen Schmalzes verbreitete, wiederholte ich unwillkürlich in meinen Gedanken: Nein, Gott gebe keinem Russen in der Fremde zu sterben!

 


Kurgäste in Baden-Baden: Zeitvertreib - "Hohe Politik"

Als ich von diesem Ausflug nach Baden-Baden zurückkehrte, fand ich dort meine zeitweiligen Gemeindeglieder, die ungeduldig auf meine Rückkehr warteten. Teils aus kirchlichen Gründen, teils wegen meiner persönlichen Beziehungen zu einigen russischen Landsleuten, mit denen ich Freundschaft geschlossen hatte, war meine Anwesenheit ebenda notwendig geworden. So beabsichtigte z.B. eine mir befreundete Familie nach Paris und von dort zum Badeaufenthalt ans Meer zu reisen; sie wartete nur auf meine Rückkehr, um sich auf den Weg zu machen. Diese Familie, die aus der Mutter, zwei erwachsenen Töchtern und einem Söhnchen, das im Alter meiner Söhne war, bestand, machte mir das verlockende Angebot, mich nach Paris mitzunehmen. Trotz der geringen Entfernung, in der ich so viele Jahre lang von dieser glänzenden Hauptstadt der europäischen Bildung und Raffinesse wohnte, hatte ich sie noch nie gesehen. Diese Fahrt reizte mich sehr, besonders in solch einer für mich angenehmen Gesellschaft. Aber das Gefühl der Pflicht, das mich an den Dienst band – und sei es auch nur in dieser zeitweiligen Pfarrstelle – bezwang die vor mir liegende Verlockung, wenn auch nicht ganz, so doch mindestens zur Hälfte, so dass ich beschloss, meine Bekannten nur bis zur Hälfte des Weges nach Paris zu begleiten, um nicht länger als zwei Tage von Baden-Baden abwesend zu sein. Ich nahm meine Kinder mit und überquerte tatsächlich zum ersten Mal die französische Grenze, die sich damals in einer Entfernung von einigen Stunden von Baden-Baden befand. 

Von meinem Aufenthalt in Baden-Baden im Sommer 1858 habe ich noch eine besondere Erinnerung bewahrt. Man sagt, dass Frauen im allgemeinen einen großen Einfluss auf die Dienstgeschäfte haben, insbesondere auf die Karriere der Staatsbeamten. Ich konnte dies nicht so ganz glauben, dann wurde ich jedoch selbst in Baden-Baden dessen Zeuge. Dort lebte in jenem Sommer die wegen ihres ungeheuren Reichtums berühmte Fürstin Butera, eine geborene Prinzessin Schachowskaja, die in erster Ehe mit dem Grafen Schuwalow verheiratet war, in zweiter Ehe mit dem Grafen Polier und in dritter Ehe mit dem italienischen Fürsten Butera. Schließlich wurde sie Witwe. Alle achteten und liebten sie wegen ihrer Güte, ihrer großen Gastfreundlichkeit und ihrer entgegenkommenden Natur. Ich hielt mich sehr oft in ihrem Hause auf und kannte den sie umgebenden Personenkreis sehr gut.

Einmal saß ich mit ihr auf der Promenade und erzählte ihr, dass ich gerade einen Brief von Vater Janyschew aus Berlin erhalten hatte, wohin er unlängst aus Petersburg versetzt worden war, nachdem er genötigt worden war, seine Stelle als Theologieprofessor an der Petersburger Universität aufzugeben. Dorthin wurde jetzt der Schwager Vater Janyschews, P.P. Polisadow aus Berlin gerufen. 

Der arme Vater Janyschew – so sagte ich – hat Heimweh nach seinem Wiesbaden, das er so liebte und wo ihn alle so gern hatten.

Dies war genug, dass alle anwesenden Damen aufseufzten und zu klagen begannen, dass der jetzige Priester in Wiesbaden, Vater Matwejewskij, der dort Vater Janyschews Platz eingenommen hat und auch ein Verwandter von ihm ist, niemandem gefällt und durchaus nicht allen Lebensbedürfnissen der dort zur Kur weilenden Russen Genüge tut. Darauf wandte sich die Fürstin Butera an die neben ihr sitzende Frau Swistunowa, deren Gatte im Außenministerium diente, mit dem Vorschlag, ob man nicht Schritte unternehmen könne, damit Vater Janyschew wieder nach Wiesbaden zurückversetzt würde. Obwohl ich wusste, dass alle die Fürstin Butera umgebenden Personen bereit waren, auch nur den geringsten ihrer Wünsche zu erfüllen, hatte ich diesmal doch Zweifel über den Erfolg dieser Unternehmung. Die Stelle in Wiesbaden war besetzt, und Vater Janyschew war doch erst vor kurzem nach Berlin versetzt worden. Aber es vergingen nur wenige Monate nach diesem Gespräch auf der Promenade in Baden-Baden, und Vater Matwejewskij wurde nach Petersburg gerufen und als Priester für den Smolensker Friedhof eingesetzt; Vater Janyschew wurde dagegen wieder nach Wiesbaden auf seinen früheren, ihm so lieben Posten versetzt. So bewahrheitete sich das französische Sprichwort: Ce que femme veut, Dieu le veut.

 


Ein russischer Priester im Gehrock

Schließlich kam die Zeit, um Baden-Baden zu verlassen. Mitte September sollte die Großfürstin Olga Nikolajewna aus Russland zurückkehren. Am 3. September zelebrierten wir den letzten Gottesdienst in Baden-Baden, bauten die Kirche ab und kehrten mit dem gesamten Klerus nach Stuttgart zurück. Aber ehe ich hier die Wintersaison begann, begab ich mich noch einmal mit meinen Kindern nach dem Rothenberg, wo wir meistens bis November blieben, da ja die Weinlese, die immer ein besonderes Fest für unsere Villégiature (Sommerfrische) war, in diesen Gegenden selten vor Mitte Oktober stattfindet. Während ich auf diesem Berge lebte, hatte ich die Gelegenheit, mit einem neuen Amtsgenossen im ausländischen Dienst Bekanntschaft zu schließen. Dieser war Vater Kolosowskij, der frühere Religionslehrer an der Lehranstalt für Mädchen aus dem geistlichen Stande in Zarskoe Selo, der sich jetzt auf dem Weg nach Madrid als Vorsteher der dortigen Gesandtschaftskirche befand. Ihm war die besondere Aufgabe übertragen worden, den jungen Sohn des dortigen Gesandten, des Fürsten Golitzyn, von dem bekannt war, dass er heimlich zu den Katholiken ging, vor der Gefahr zu schützen, zum katholischen Glauben überzutreten. Diese Gefahr war um so offensichtlicher, als der Fürst Golitzyn über ein ungeheures Vermögen verfügte; und die dortigen Jesuiten würden bestimmt keine Gelegenheit ungenutzt lassen, um sich dieses Reichtums zu bemächtigen. Dank des Eifers und der Fürsorge Vaters Kolosowskij wurde der junge Fürst vor dem Katholizismus bewahrt, aber nicht von der Gefahr eines ausschweifenden Lebens angesichts des ungeheuren Vermögens, das er schon in jungen Jahren nach dem Tod seines Vaters geerbt hatte. 

Vater Kolosowskij kam zu mir im Gewand eines russischen Geistlichen mit einem riesigen Bart und langen Haaren, die ihm auf den Rücken fielen. Ich machte ihn damals schon darauf aufmerksam, wie unangenehm es für ihn sein wird, seine russische Aufmachung in diesen fremden Gegenden zu bewahren, aber er wollte mir anfangs nichts glauben, da er es unziemlich fand, seine Rjasa (Priestergewand) mit einem Gehrock auszutauschen und seine langen Haare zu schneiden. Dennoch musste er sich bald eines besseren besinnen. Schon in Stuttgart zog er, wenn er durch die Straßen ging, die allgemeine Neugierde auf sich, und eine Menge Gesindel folgte ihm, schreiende und kreischende Lausbuben rannten hinter ihm und vor ihm und starrten ihn an wie eine Maskeradenfigur. Als er dann nach einigen Tagen wieder bei mir auf dem Rothenberg erschien, trug er schon einen Gehrock, und die wunderbaren Haare auf seinem Kopf waren geschnitten; es blieb nur der ungestutzte, prachtvolle Bart übrig, den er bis zum Tode, welcher ihn in der Fremde schon bald ereilte, beibehielt.

 


Die Stuttgarter Gemeinde wächst

Der nun eintretende Winter war diesmal für uns in Stuttgart nicht so öde wie zuvor. Von der Zeit an, als wir vorübergehend in Baden-Baden Gottesdienste hielten, entdeckten unsere Landsleute plötzlich Stuttgart, und sie kamen von da an mit jedem Jahr öfters auf Winterferien zu uns. Sie brachten bald in Erfahrung, dass es in Stuttgart ausgezeichnete Schulen gab, und einige Familien siedelten sich hier sogar zur Erziehung ihrer Kinder an; es wurde auch ein Internat für russische Knaben eröffnet, wo sich in einem Winter 12 Jungen einfanden. In der Folge begann man auch, die Mädchen im hiesigen Katharinen-Institut unterzubringen, das noch von der Königin Katharina Pawlowna für die höhere Töchterbildung gegründet worden war. Außerdem tauchten unsere Russen in Cannstatt, das in einer Entfernung von fünf Minuten per Eisenbahn von Stuttgart liegt, in verschiedenen der sich dort befindenden Heilanstalten auf, so z.B. in der bekannten orthopädischen Klinik des Dr. Heine, wo einstmals der Herzog von Leuchtenberg, Nikolaj Maximilianowitsch, in Behandlung war; weiterhin in der Hautklinik des Dr. Feile und in der Heilanstalt für seelische Krankheiten, wo auch einige unserer Landsleute waren, und schließlich in der Erziehungsanstalt Klose, durch die nicht wenige unserer russischen Jugendlichen gegangen waren. Mit einem Wort Stuttgart lebte plötzlich auf, und für mich begann an diesem Ort die seelsorgerische Tätigkeit, hauptsächlich mit den Religionsstunden, aber auch mit Russischunterricht, da ich zu jener Zeit ganz allein und ohne Gehilfen war und dabei nur wenig gebildete Psalmenleser hatte. Das war auch einer der Gründe, der mich dazu veranlasst hatte, um die Ersetzung der alten Küster durch junge, möglichst akademisch gebildete Leute zu ersuchen. Und tatsächlich, als anstelle der Psalmenleser studierte Theologen bei mir ihren Dienst antraten, fanden sie hier eine große Beschäftigungsmöglichkeit in der Vorbereitung der jungen Leute zum Eintritt ins Gymnasium und sogar in die Universität. Zu dieser Belebung des russischen Geistes in Stuttgart kam noch die Erneuerung unserer Botschaft im russischen Geiste hinzu. V.P. Titow, der schon zuvor Gesandter bei uns gewesen war, kehrte nach zweijährigem Dienst bei dem verstorbenen Thronfolger Nikolaj Alexandrowitsch wieder auf seinen Gesandtenposten zu uns zurück, und das Gesandtschaftsgebäude in Stuttgart wurde wieder ein russisches Haus, in dem unsere Landsleute einen herzlichen Empfang fanden.

 

Doch während ich mich auf den Winter 1858/59 einrichtete und mit der Zunahme an pastoraler Tätigkeit in Stuttgart selbst zufrieden war, warb man in Petersburg stark um mich, und mir hätte beinahe eine Veränderung meines Lebens mit dem Wechsel auf eine Stelle in Russland bevorgestanden. Zunächst wollte mich meine Hochwohlgeborene Schülerin, die Großfürstin Olga Feodorowna, als Geistlichen bei sich behalten, doch danach folgte ein viel ernsthafterer Vorschlag seitens der Kaiserin Maria Alexandrowna, die mich als Gehilfen von Bazanow bei ihren Kindern haben wollte. Im Brief der Kaiserin, den mir die Großfürstin Olga Nikolajewna mitteilte, drückte sich ihre Hoheit in dieser Hinsicht folgendermaßen aus: “Sprechen wir nun von einer Angelegenheit, die meinem Herzen genauso nahe liegt, wie dir. Ich suche einen Priester für meine beiden jüngsten Söhne. Du kannst erraten, an wen ich denke. Bist du bereit, uns Bazarow zu opfern? Erstens erwarten wir von ihm, dass er sich den Kindern so widmet, wie sich der Priester von Maria Nikolajewna seinen Zöglingen widmete (gemeint ist I.V. Roshdestwenskij). Er soll ein geistlicher Vater sein, Lehrer, Freund, Kamerad und – vor allem ein Führer und Ratgeber für seine Zöglinge. Mit einem Wort, er soll entgegenkommend sein, aber stets fest und kein Fanatiker; er soll ganz im Leben der Kinder aufgehen, ein unumgängliches Element davon werden, nur an den Nutzen der Kirche und das Heil der Kinder denken, nicht aber an die Meinung der Welt. Wenn er all das nach Kräften sein will und kann, so nehmen wir ihn mit offenen Armen auf, doch wenn in seine Seele auch nur der geringste Tropfen von Protestantismus eingedrungen ist, so werden wir einander nicht verstehen. Mir liegt die Frage des Unterrichts, den Bazanov leider vernachlässigt,  sehr am Herzen, doch da noch Zeit ist, kann sich Bazarow darauf vorbereiten und die jetzigen Anforderungen ins Auge fassen ... Wenn es sich einrichten lässt, hätte ich ihn gern in diesem Sommer oder spätestens Herbst. Ich habe Bazanow noch nichts gesagt, da ich auf Antwort warte. Ich nehme an, dass er selbst versteht, dass er nicht genügend Zeit dafür hat. Im Sommer und im Herbst wird der Unterricht der Kinder oft unterbrochen. Basarow müsste mit uns wohnen. Ich weiß, meine Liebe, dass ich ein großes Opfer von dir fordere! Bevor du mit ihm sprichst, beschreibe mir bitte seinen Charakter, wie du ihn verstehst. Ist er nicht zu nachsichtig?” 

Als Antwort auf diesen Brief sagte ich meiner Großfürstin, dass sie für ihre Kinder einen zweiten Roshdestwenskij sucht, aber außer ihm keinen solchen finden wird. Indessen begann die Entschlossenheit der Großfürstin, mich für die Kaiserin zu opfern, ins Wanken zu geraten. Besonders war ihr Gatte dagegen, damals noch Kronprinz.

“Das ist eine Schande für Russland, – sagte er mir –, dass man dort keinen Religionslehrer für die Kinder des Herrschers finden kann und der Großfürstin ihren geistlichen Vater entziehen muss, an den sie gewöhnt ist”.

Schließlich gelangten wir zur folgenden Entscheidung: Wenn ich dort gebraucht würde, damit der Thronfolger seine Bildung abschließen könnte, so wäre die Großfürstin Olga Nikolajewna bereit, ihren geistlichen Vater für diese wichtige Tätigkeit zu opfern. Und in diesem Sinn wurde der Kaiserin eine deutliche Antwort gegeben.

Im Frühling dieses Jahres machte die Großfürstin Maria Nikolajewna auf der Rückreise von Italien nach Russland in Stuttgart Station. Da sie mir immer geneigt war, wandte ich mich um Rat an sie, wie ich mich in diesem Falle verhalten sollte. Mir fiel es schwer, die Großfürstin Olga Nikolajewna zu verlassen, die von der Möglichkeit, ihren geistlichen Vater zu verlieren und ihn durch irgend jemand anderen zu ersetzen, sehr besorgt und sogar betrübt war, andererseits aber, sagte mir mein Gewissen, dass ich mich einer neuen und dabei so wichtigen Verpflichtung nicht entziehen dürfte. Die Großfürstin Maria Nikolajewna betrachtete diese Angelegenheit von der praktischen Seite und sagte mir unter anderem: “Es tut mir leid um Sie, wenn Sie an den Großen Hof gehen. Sie werden dort ganz verdorben!” 

“Weshalb denn, Eure Hoheit?” 

“Ja deshalb, weil es dort zu viele Intrigen gibt. Und Sie selbst werden nicht bemerken, wie Sie in dieses trübe Wasser gezogen werden, oder, wenn Sie sich dafür als ungeeignet erweisen, werden Sie selbst zum Opfer einer Intrige. Deshalb mein Rat: Nehmen Sie diese Stelle nicht sofort an, sondern fahren Sie erst zur Probe. Gefällt es Ihnen dort, so bleiben Sie mit Gottes Hilfe, gefällt es Ihnen nicht, so kehren Sie zurück, worüber sich Olga Nikolajewna sehr freuen wird”.

Und wie dankbar war ich in der Folge für diesen guten Rat der Großfürstin. Doch vorläufig blieb diese Angelegenheit offen, und ich dachte schon, dass sie ganz ins Wasser gefallen war, umsomehr, als ich überzeugt war, dass der Passendste und Wünschenswerteste für diesen Platz doch I.V. Roshdestwenskij war. Allerdings wollte die Großfürstin Maria Nikolajewna sich nicht von ihm trennen, sondern ihn bei ihren Kindern behalten, und die Kaiserin selbst fand ihn etwas trocken und streng klerikal, doch dafür hatte er alle Erzieher der Großfürsten auf seiner Seite, die ihn liebten und ehrten wie ihren Nächsten, beinahe wie ein Familienmitglied. Roshdestwenskij hatte eine besondere Fähigkeit, mit allen Spaß zu treiben, ohne auch nur im geringsten seine Würde zu erniedrigen, sondern im Gegenteil nahm er manchmal plötzlich einen doktoralen Ton an, wobei er sich nicht scheute, scharfe Worte zu benutzen, was ihm gerne verziehen wurde, besonders von den Hofdamen. Zu all dem fühlte ich mich völlig untauglich. Ich erinnere mich, wie sogar V.B. Bazanow sich über diese Fähigkeit Roshdestwenskijs wunderte, mit den Herrschaften vom Hof zu spaßen.

“Er geht sogar, – sagte Bazanow –, zu den Hofdamen und verbringt mit ihnen die Abende, während ich nicht einmal weiß, wo sie da im Winterpalais wohnen”.

 


Das Pfingstfest auf dem Rothenberg

So zog ich zu Beginn des Sommers in aller Ruhe mit den Kindern in meine Sommerresidenz auf dem Rothenberg, welche ich wegen ihrer Ruhe, der wunderbaren Lage und der reinen Luft so liebte. Hierher kamen gerne die in Stuttgart lebenden Russen zu Besuch, sogar die Großfürstin Olga Nikolajewna würdigte mich mit ihrem Gatten eines Besuches. Einmal half mir ein solcher Besuch, meinen Besitz auf dem Rothenberg zu erweitern. Ich muss anmerken, dass auf diesem Berg einst das Stammschloss des Württembergischen Königshauses stand, Schloss Württemberg, das dem ganzen Land seinen Namen verlieh. Die Ruinen dieses Schlosses existierten noch bis zum Jahr 1819, als nach dem Tode der Königin Katharina Pawlowna ihr Gatte, der Vater des jetzigen (1887) Königs, befahl, die Ruinen dieses Schlosses bis auf den Grund auszugraben, und an der selben Stelle eine russische Kirche erbaute, in welcher der Leichnam der Königin Katharina Pawlowna beigesetzt wurde. 

1864 wurde dann nach dem Testament des in diesem Jahr verstorbenen Königs auch sein eigener Leichnam in dieser Kirche neben dem seiner geliebten Gattin begraben. Deshalb befindet sich dieser ganze Berg im Besitz und unter Aufsicht des Württembergischen Hofes und, obgleich hier in der Nähe der Kirche ein Haus für den Priester mit einem dazu gehörigen Garten und Weinberg gebaut wurde, war der ganze übrige Teil des Berges, welcher einen eigenen Hügel bildet, auf dessen Höhe unsere Kirche steht, von der Schlossverwaltung den Rothenberger Bauern zum Mähen verpachtet, und deswegen konnten wir keinen Schritt aus unserem Haus tun, ohne den geliebten Rasen zu betreten. Doch dieses Mal, als man uns mitteilte, dass um 6 Uhr abends ihre Hoheiten zu uns zum Tee kämen, unterlagen wir der Versuchung, sie auf der anderen Seite des Berges zu bewirten, von wo sich der Blick auf die Villa der Großfürstin öffnet, auf das Neckartal und die weiten Ausläufer des Schwarzwaldes. Ihre Hoheiten waren begeistert von diesem Platz. Während wir hier um unseren Teetisch saßen, liefen meine Kinder und die aus anderen russischen Familien eingeladenen Kinder auf dem Gras herum. Plötzlich erscheint aus dem Dorf eine Delegation, um sich zu beschweren, dass wir das Gras zertreten hätten, und um einen finanziellen Ausgleich dafür zu fordern. Sowohl der Kronprinz als auch die Großfürstin waren von dieser Forderung erstaunt, und ich musste ihnen erklären, warum diese Leute das Recht hatten, eine Wiedergutmachung zu fordern. Da fragte die Großfürstin sie, wie hoch die Pacht ist, die sie zahlen, und sie erklärte sofort, dass sie ab nächstes Jahr diesen ganzen Berg pachten wird und mir zur Nutzung nach eigenem Gutdünken überläßt. So wurde das auch gemacht, und bis heute zahlt die Königin nun ihrem Gemahl, dem König, die jährliche Pacht für den ganzen Berg, und ich nutze sowohl das Gras, als auch vor allem den ganzen Berg ohne Einschränkung, auf dem ich seitdem verschiedene Pflanzungen unternahm, neue Wege anlegte und den ganzen Berg in einen Park verwandelte, auf dem man jetzt den Schatten,  sowie verschiedene Früchte von den von mir angepflanzten Obstbäumen genießen kann. Doch der größte Feiertag auf dem Rothenberg war immer der Pfingsttag. Dazu schmückten wir die Kirche nach russischer Sitte mit Birken, Blumen und Gras. Die Großfürstin mit dem Kronprinzen, die ganze Gesandtschaft und alle Russen von nah und fern, die nicht selten aus der Umgebung zu diesem Feiertag anreisten, füllten die Kirche. Nach der Liturgie versammelten sich alle bei mir zum Tee, und einige blieben zum Mittagessen, das immer in der reinen Luft im Garten stattfand, und blieben den ganzen Tag zu Spaziergängen um den Berg. Dies war eine unvergessliche Zeit und viele meiner Amtsbrüder und Gemeindemitglieder beneideten mich um mein Rothenberger Idyll.

 


Russische Kirchen in Weimar, Remplin, Luwigslust und Rothenberg

Im Juni dieses Jahres rief man mich nach Weimar, wo die Großfürstin Maria Pawlowna gestorben war. Hier versammelten sich außer mir der Berliner Priester und der hiesige Erzpriester Sabinin für die feierliche Beerdigung der Großfürstin. Hier lernte ich zum ersten Mal ihre Tochter kennen, die Prinzessin Augusta, die jetzige deutsche Kaiserin. Ich schenkte ihr damals meine Übersetzung der Panichida, und tat ihr damit einen solchen Gefallen, dass sie sich von diesem Büchlein nicht nur während der Panichiden am Grab ihrer verstorbenen Mutter nicht mehr trennte, sondern, wie sie mir selbst sagt, später auch nicht bei ihren persönlichen Gebeten für die Seelenruhe ihrer Mutter. Dieses Mal schenkte sie mir als Zeichen ihres Wohlwollens eine Ikone der Gottesmutter von Kazan, die auf Porzellan gemalt war, in einem geschnitzten Holzrahmen, und sie nahm mir das Wort ab, dass ich mich immer in jeder Stadt, in die sie fahren wird, bei ihr melde, was ich auch heilig bis jetzt erfülle, besonders in Baden-Baden, wo sie sich häufig aufhält und ihre Hoheit jedes Jahr den Frühling und den Sommer verbringt. Einmal weilte ich in Baden-Baden nur wenige Tage während ihres Aufenthaltes und konnte mich nicht bei ihrer Hoheit melden. Als sie meinen Namen auf der dortigen Fremdenliste las, ließ sie sofort unseren Gesandten Koloschin rufen und fragte ihn aus, weshalb ich in Baden-Baden war und sie nicht aufgesucht hatte. Dieser antwortete, dass ich nur auf eine Nacht gekommen und am nächsten Morgen abgereist war. Dies zwang mich dazu, mich unbedingt bei ihr zu melden. Ihr Bruder, der jetzt regierende Großherzog von Sachsen-Weimar, erwies mir sowohl in jener Zeit in Weimar, als auch bei verschiedenen späteren Begegnungen sein besonderes Wohlwollen. Nach der Beerdigung der Großfürstin zeichnete er mich mit einem Brillantring und dem Weimarer Orden des Weißen Falken am Halsband aus. Auf diese Weise wurde meinem Zeringer Löwen nun ein Falke zugesellt, und ich erinnerte mich an den Scherz des Grafen Tolstoj, der sagte, dass ich bald einen ganzen Zoo am Hals haben werde.

Im Juli begab sich unsere Großfürstin nach Bad Ems, wo sich in dieser Zeit die Kaiserin Alexandra Feodorowna aufhielt. Die Gottesdienste dort vollzog Janyschev mit dem Klerus aus Wiesbaden. Doch ihn forderte die Großfürstin Helena Pawlowna nach Mecklenburg an zur Einweihung der Kirche in Remplin, wo die Sommerresidenz der Großfürstin Katharina Michailowna eingerichtet werden sollte, die mit dem Herzog von Mecklenburg-Strelitz verheiratet ist, und ich wurde nach Bad Ems gerufen, um den Gottesdienst für die Kaiserin zu halten. Der Mecklenburgische Doppelstaat, der in Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz zerfällt, besitzt jetzt drei russische Kirchen. Außer der in Remplin gibt es dort jetzt eine Kirche in Ludwigslust, der Sommerresidenz der Großherzogin Elena Pawlowna, einer der fünf Töchter des Zaren Pavel Petrovitsch, die im Ausland verheiratet waren. Eine von Ihnen, Katharina Pawlowna, war die Württembergische Königin und ist auf dem Rothenberg begraben, eine andere, Alexandra Pawlowna, war mit dem ungarischen Palatin Joseph verheiratet und ist in Irom, in der Nähe von Budapest, in einer speziell für diesen Zweck erbauten russischen Kirche beerdigt. Die dritte, Maria Pawlowna, die in Weimar starb, ist in der herzoglichen Gruft beigesetzt, neben den Gräbern von Goethe und Schiller. Übrigens wurde an diese Gruft eine kleine russische Kirche angebaut, und den Sarg der Großfürstin stellte man so auf, dass er zur einen Hälfte in der russischen Kirche steht, zur anderen aber in der allgemeinen Gruft der Sachsen-Weimarer Herzöge, die auch die sterblichen Überreste der beiden großen deutschen Dichter in ihrer Mitte aufzunehmen geruhten. Die vierte der fünf Schwestern, die im Ausland verstarben, war Anna Pawlowna, die Königin der Niederländer, die im Haag starb. Schließlich die fünfte Helena Pawlowna, die in Mecklenburg beerdigt ist. All unsere Kirchen im Ausland sind nicht Hauskapellen, sondern richtige Kirchen, die meistens an auffallenden und erhabenen Punkten erbaut wurden, und ich erinnere mich der Bemerkung, die Gogol dazu machte, als die Kirche in Wiesbaden ebenfalls auf einem Berg gebaut wurde, von wo sie auf weite Entfernung zu sehen war.

“Sehen Sie, – sagte er mir –, wie die Ausländer unsere Kirchen verherrlichen, ohne dies selbst zu bemerken. Sie werden sie mit der Zeit alle mit ihrem Orthodoxen Kreuz segnen”.

“Gebe Gott, dass diese prophetischen Worte unseres großen Dichters einmal Wahrheit werden”.

Ende Juli verließ die Kaiserin Bad Ems und begab sich nach Interlaken. Ihr folgte auch unsere Großfürstin, ich aber kehrte auf meinen Rothenberg zurück. Hier unternahm ich mit meinen Kindern und deren Gefährten eine längst geplante Reise, teils mit der Eisenbahn, teils aber zu Fuß, zu den Ruinen des Rechberg und Hohenstaufen. Württemberg ist überhaupt reich an Denkmälern historischer Ereignisse, die auf einem kleinen Raum zusammen liegen. So ist vom Rothenberg das Schloss Hohenzollern zu sehen, die Wege des jetzt regierenden preußischen Kaiserhauses, und auf der anderen Seite unseres Berges liegt das Städtchen Waiblingen, das den Wibelinen in ihrem Kampf mit den Welfen ihren Namen verlieh, die ihrerseits ihren Sitz im südlichen Württemberg hatten. Leider sind von all diesen historischen Ereignissen sehr wenig materielle Denkmäler verblieben. So fanden wir auf dem Berg, auf dem einstmals das StammSchloss der Hohenstaufen stand, nichts außer einem Stein, der auf dem Platz aufgestellt wurde, wo das Schloss stand, alles andere wurde von den Bewohnern der benachbarten Dörfer für ihre Hausbauten weggetragen, und vielleicht kann man in dem einen oder anderen Stall Steine mit historischen Aufschriften entdecken, worum sich jetzt der unlängst gegründete Verein der Liebhaber der Heimatgeschichte sehr bemüht. Von dem Ausflug zurückgekehrt, setzte ich unbesorgt meine Villeggiatura fort, unter Ausnutzung dessen, dass meine gesamte Stuttgarter Gemeinde zum Sommer in Badeorte und Sommervillen gereist war, als ich plötzlich eine Depesche vom Sekretär der Kaiserin Maria Alexandrowna erhalte, in der steht, dass ihre Hoheit wünscht, dass ich mit dem nächsten Postschiff von Stettin nach Zarskoe Selo komme. Das war zu Anfang der Woche, die Schiffe aber fuhren sonnabends, so dass mir nicht mehr als zwei Tage verblieben, um mich auf die Reise nach Stettin vorzubereiten. Mir war jetzt klar, dass die Verhandlungen über meine Einstellung als Religionslehrer für die Großfürsten mit dem Vorschlag der Großfürstin Maria Nikolaewna endeten, diese Stelle nicht ohne vorherige Probezeit anzunehmen, und dass man mich jetzt für diese Probe kommen ließ.

 


Zarskoe Selo 

So setzte ich mich am 4. August mit dem “Preußischen Adler” aus Stettin in Bewegung. Das Wetter war angenehm, und wir näherten uns am dritten Tag der Reise Kronstadt, als sich uns aus Oranienbaum ein Hofkutter näherte und unser Schiff anhielt. Alle drängten sich an Bord, um den Grund für diesen Halt zu erfahren. Von dem Kutter kommt ein Hofbeamter an Bord des Schiffes und begibt sich mit einem Papier zum Kapitän. Ich höre, dass er meinen Namen nennt. Ich melde mich und der Beamte teilt mir mit: “Ich habe den Auftrag, Sie von dem Schiff zu holen und nach Zarskoe Selo zu bringen”. Meine Lage war nicht angenehm. Ich reiste auf dem Dampfer nach unserer Gewohnheit im Ausland in Zivilkleidung, und wenn meine geistliche Kleidung auch im Koffer bei mir war, so hatte ich doch keinen geistlichen Hut, den ich erst in Petersburg zu kaufen beabsichtigte. Dabei erinnerte ich mich, wie ich das letzte Mal nach meiner Ankunft in Peterhof in Erwartung meines Hutes aus Petersburg zwei Tage in meiner Zelle saß, ohne ausgehen zu können. Als ich das alles überlegt hatte und noch mehr befürchtete, dass man mich nach meiner Ankunft zur Kaiserin beordern würde, hielt ich es für vernünftiger, mich zunächst nach Petersburg zu begeben, und lehnte es ab, den Dampfer zu verlassen. Der Abgesandte widersprach mir nicht und bestand nur darauf, dass ich auf dem Papier, das ihm mit diesem Auftrag überreicht worden war, unterschrieb, dass ich es gelesen hatte und nach Petersburg gefahren sei, was ich auch tat, wobei ich hinzufügte, dass ich am folgenden Tag in Zarskoe Selo erscheinen würde. Nach Beendigung dieser Verhandlungen setzte sich unser Dampfer wieder in Bewegung, und wir fuhren nach Kronstadt ein, von wo ein anderer kleinerer Dampfer uns nach Petersburg brachte. 

Am Morgen des nächsten Tages kleidete ich mich ganz nach russischer Art in meine geistliche Kleidung und begab mich mit der Eisenbahn nach Zarskoe Selo, wo mich am Bahnhof eine Hofkutsche erwartete. Im Palais angekommen, traf ich am Eingang den Grafen Gortschakow, der schon wusste, dass mich die Kaiserin  gerufen hatte und mich als aufgehenden Stern begrüßte und scherzend hinzufügte: “Jetzt wird Sie Kardinal Bazanow schief ansehen”. Er bezeichnete Wasilij Borisovitsch gerne im Scherz als Kardinal, wodurch er dessen hohe Stellung in der Gesellschaft und seinen halb weltlichen und halb geistlichen Einfluss auf aktuelle Ereignisse kennzeichnete. 

 

Man wies mir eine Wohnung im sog. “Halbkreis” gegenüber dem Schloss zu, wo alle Erzieher der Großfürsten untergebracht waren, und am selben Tag wurde ich von der Kaiserin empfangen, die mir eine ausführliche Unterredung gewährte, insbesondere über die Erziehung der Zarenkinder. Im Verlauf dieser Unterredung kam der Zar herein, der mich sehr liebenswürdig begrüßte. Er blieb einige Minuten still stehen, hörte unserem Gespräch zu, mischte sich jedoch mit keinem Wort ein. Das erstaunte mich dieses Mal etwas, doch in der Folge erfuhr ich, dass er die Erziehung der Kinder völlig der Kaiserin überlassen hatte und nie an den Anweisungen dazu teilnahm. Nur bei den Plänen von Titow, der als Erzieher des Thronfolgers eingeladen war, tat er seinen Willen entgegen den Wünschen der Kaiserin kund, die den träumerischen Plänen Titows hinsichtlich der Erziehung des Thronfolgers von ganz Russland zugeneigt war. Infolge der deutlichen Willenskundgebung des Zaren trat Titow von seinen Verpflichtungen zurück und kehrte auf seinen Posten als Gesandter in Stuttgart zurück.

Von mir wurde natürlich keinerlei Lehrplan erwartet. Meine Aufgabe war nur der Religionsunterricht und die Ausübung eines sittlichen Einflusses auf meine Zöglinge. Die Kaiserin hatte allerdings in ihren Zielen, die sie im Brief an die Großfürstin Olga Nikolaewna niedergelegt hatte, bei der Auswahl meiner Person für diese Aufgabe einen umfangreicheren Lehrplan im Sinn, da dort die Rede von der erzieherischen Bedeutung des Religionslehrers und seinem Einfluß auf die Erzieher selbst die Rede war. Doch eben darin bestand die ganze Schwierigkeit der Aufgabe. Ich weiß nicht, ob die Erzieher das verstanden oder ob sie von oben einen Hinweis erhalten hatten, doch ich bemerkte seit meinem ersten Erscheinen in ihrem Kreis, dass sie mir nicht besonders gewogen waren. Es begann damit, dass sie alle über meine Ankunft erstaunt waren, als ob sie unerwartet sei. Ich nehme an, dass sie vielleicht wirklich nichts über die Unterredungen über mich wussten. 

Indessen wurde ich fast jeden Tag zu Gesprächen mit der Zarin gerufen. Das weckte in ihnen zunächst Neid, und dann begann es ihnen Angst einzuflößen. So begann gegen mich eine Intrige, die mir die Großfürstin Maria Nikolaewna vorausgesagt hatte. Sie errieten, dass man mich dem Thronfolger beigesellen und durch mich vielleicht sogar Bazanow selbst ersetzen wollte. Daher riefen sie eilig aus Petersburg den Erzpriester Roshdestwenskij herbei, der wohl in diesem Sommer mit den Großfürsten schon in Happsala war, doch keine derartige Nähe zur Kaiserin genoss. Sie riefen ihn unter dem Vorwand, dass der in Happsala mit dem Thronfolger begonnene Unterricht abgeschlossen werden müsse, und brachten ihn in demselben "Halbkreis" neben mir unter, mit der Bemerkung, dass es mir nicht langweilig werden sollte. Unterdessen lud man mich täglich zum Essen entweder zu den Großfürsten oder zur Großfürstin Maria Nikolaewna ein. I. V. Roshdestwenskij wurde auch eingeladen und stand als längst vertrauter Mensch mit allen in gutem Einvernehmen. So verging eine ganze Woche. Unter diesen Umständen war ich sehr froh, von unserer Großfürstin einen Brief zu erhalten, in dem sie schrieb, dass ich, ohne irgend ein positives Versprechen zu geben, zum 14./26. September nach Stuttgart zurückkehren sollte, zur Rückkehr ihrer Hoheit dorthin aus Interlaken. Man musste das kaum verborgene Vergnügen meiner Mitbewohner im “Halbkreis” sehen, als ich ihnen diese Nachricht mitteilte. Mein Onkelchen Roshdestwenskij wurde böse und sagte, dass er nicht den ganzen Unterricht bewältigen könne. Die Kaiserin, zu der ich mit dieser Nachricht kam, war sehr traurig über meine Abreise und verabschiedete sich sehr freundlich von mir. 

 


Rückkehr nach Stuttgart

Ich selbst bestieg am 9. September die Postkutsche, um über Warschau nach Deutschland zu reisen, und fühlte, welcher Stein mir von den Schultern gefallen war, nicht weil ich zu meinem freien Leben nach Stuttgart zurückkehrte, sondern von der stickigen Luft, mit der sich alle schwer tun, die nicht daran gewöhnt sind. Nach Stuttgart zurückgekehrt, erzählte ich alles der Großfürstin Olga Nikolaewna. Sie antwortete mir, dass das alles ganz gut wäre, wenn es einige Jahre früher geschehen wäre, aber jetzt, wo ich schon so lange der Beichtvater ihrer Hoheit war, wäre es unannehmbar, als Assistent für Religionsunterricht nicht einmal bei Bazanow, sondern Roshdestwenskij eingesetzt zu werden.

“Ich habe der Kaiserin versprochen, – sagte sie schließlich –, Sie für den Thronfolger abzugeben, und nur für dieses Ziel würde ich mich von Ihnen trennen”.

Danach verstand ich, dass mein Schicksal trotz meiner vielen Versuche zum Dienst nach Russland zurückzukehren, von oben zum Dienst an der Kirche und am Vaterland im Ausland vorbestimmt war. So erinnere ich mich eines Gespräches zu diesem Thema mit dem Wiener Erzpriester Rajewskij. Voll jugendlichen Eifers entwickelte ich damals vor ihm Beschwerden darüber, dass unsere geistlichen Vorgesetzten uns Priestern im Ausland wenig Entfaltungsmöglichkeiten geben. Ich meinte, dass man darauf hätte achten müssen, dass die jungen Menschen, die den Dienst im Ausland antreten, hier sowohl ihre Kenntnisse, als auch ihre Ansichten über die Bedürfnisse der Kirche erweitern, weshalb man sie nach einer bestimmten Zahl von Jahren nach Russland zurückrufen und ihnen mehr oder weniger einflussreiche Posten einräumen müsse, auf denen sie ihr in der Praxis erworbenes Wissen zum Nutzen des kirchlichen Lebens in der Heimat anwenden könnten. Darauf antwortete er mir, dass unsere geistlichen Vorgesetzten zufrieden sein müssten, wenn sie fähige Personen für die Posten im Ausland finden, und, wenn sie solche gefunden haben, müssen sie diese schätzen und an ihre Stellen nicht neue ernennen.

“Schauen Sie sich um, – sagte er –,  wer könnte derzeit E. I. Popow in London oder I. V. Wasiljew in Paris besser ersetzen oder Janyschew in Wiesbaden oder Sie in Stuttgart oder mich in Wien? Selbst wenn Sie uns gegeneinander austauschen, so würden wir ungeeignet für die neue Tätigkeit sein, während jetzt jeder an seiner Stelle ist, Erfahrung und Routine gewonnen hat, der Kirche und der Heimat mit großem Nutzen dient”. Goldene Worte, und wie viel Wahrheit war in ihnen, wenigstens für jene Zeit!

Im Juni 1860 kam die Kaiserin Alexandra Feodorowna nach Wiesbaden, und infolgedessen übersiedelte dorthin auch unsere Großfürstin und ich mit dem Klerus zur Durchführung der Gottesdienste. Dies war der letzte Besuch der Kaiserin in Wiesbaden und überhaupt im Ausland, da sie im Herbst dieses Jahres verstarb. Interessant war ein Vorzeichen dieses Ereignisses, das vor meinen Augen geschah. Am Geburtstag des verstorbenen Kaisers, am 25. Juni, hielten wir einen Gedenkgottesdienst in den Räumlichkeiten der Kaiserin. Als ich ihrer Hoheit eine brennende Kerze gab, erlosch diese plötzlich in ihrer Hand. Die Kaiserin wandte sich ohne die geringste Betrübnis an die neben ihr stehende Großfürstin Olga Nikolajewna und sagte: “Siehe! Ich werde sterben”.

 


Passionsspiele in Oberammergau

Nachdem wir die Kaiserin verabschiedet hatten, die aus Wiesbaden unmittelbar nach Russland reiste, da sie nach ihren Worten nicht in fremden Gefilden sterben wollte, beschloss ich, mit unserem Gesandten V. P. Titow eine Reise nach Oberbayern zu machen, wo alle 10 Jahre eine Aufführung der Passionsspiele stattfindet, die Massen von frommen und noch mehr neugierigen Menschen von allen Enden der Welt anziehen. Ich nahm meinen ältesten Sohn mit, und wir machten uns Anfang August auf die Reise. Mit der Eisenbahn nach München gekommen, erkundigten wir uns, wie man den berühmten Ort in den Bayerischen Alpen erreicht. Nachdem man uns den Weg beschrieben hatte, warnte man uns in München, dass wir ohne vorherige Buchung einer Kutsche und Unterkunft riskieren, unser Ziel wegen der Menschenmenge, die zu diesem Schauspiel eilt, nicht zu erreichen. Wir beschlossen jedoch auf gut Glück zu fahren. Wir setzten mit dem Dampfer über den Starnberger See über, der in der Folge wegen des unglücklichen Todes des Bayerischen Königs so berühmt werden sollte, der sich in dessen Wellen stürzte und seinen Leibarzt mit sich in die Tiefe riß. Am Landeplatz sahen wir eine zahllose Ansammlung von Fuhrwerken aller Art, von Postkutschen und Omnibussen angefangen bis zu einfachen Fuhrwerken mit Sitzen aus Brettern. Als wir ans Ufer kamen, stellten wir fest, dass die besseren Fahrzeuge alle schon von den mit uns reisenden Passagieren im voraus aus München bestellt waren, und wir mussten uns ein Plätzchen in einem der Omnibusse oder Pferdefuhrwerke suchen, auf die sich alle sofort im Handgemenge stürzten. Es gelang uns jedoch, irgendwie drei Plätze in einer dieser Kutschen zu finden, in der 12 Personen saßen, größtenteils einfache Menschen. Es waren ungefähr 6 Stunden Reise bis nach Oberammergau, und einen solchen Weg in dem ungemütlichen Fuhrwerk durchzuhalten, wäre unmöglich gewesen. Zum Glück ging der Weg größtenteils bergauf und deshalb im Schritt, so dass wir häufig unseren Omnibus verlassen und zu Fuß gehen konnten, wobei wir die Alpenluft und die malerische Umgebung genossen. Diese Reise, wie auch die Aufführung in Oberammergau beschrieb und druckte ich in der Zeitschrift “Strannik” 1861 unter dem Titel: “Die Passionsspiele in Oberbayern”, weshalb ich hier das Beschriebene nicht wiederholen, sondern nur einige Episoden aus dieser interessanten Reise erwähnen werde. Als wir an dem Ziel unserer Reise ankamen, befanden wir uns vor den Schwierigkeiten, die man uns in München vorausgesagt hatte. Wir kamen am Samstagabend dorthin, am Vorabend der Aufführung, welche im Laufe des Sommers jedes zehnten Jahres jeweils sonntags gegeben wird, und unsere erste Sorge war es, für uns Karten für die morgige Vorstellung zu erhalten. Deshalb gingen wir zum Theater, welches außerhalb des Dorfes auf dem Feld gelegen ist. Hier erstaunten uns die Figuren kostümierter Personen, die auf dem Feld umhergingen und bei den ringsherum aufgebauten Zelten aus Bierkrügen tranken. Es zeigte sich, dass das die morgigen Schauspieler waren, alle aus Oberammergau, Pharisäer, römische Soldaten, Volk in der Kleidung der Zeit, und als wir an die Unterkunft dachten, welche schwierig zu erhalten war, da alles längst belegt war und uns deshalb an einen Einwohner wandten, sagte dieser, nachdem er etwas nachgedacht hatte auf eine der kostümierten Personen zeigend: “Fragen Sie diesen Pharisäer, vielleicht findet sich in seinem Haus noch Platz." Doch auf unsere Frage antwortete der Pharisäer, dass bei ihm schon alles überfüllt sei. 

“Aber versuchen Sie es dort bei der Gottesmutter, dort finden Sie vielleicht noch eine Unterkunft”.

Wie seltsam es uns auch anmuten mochte, solche Adressen zur Suche einer Unterkunft zu hören, gingen wir doch zu dem uns gewiesenen Haus der Gottesmutter, wobei wir jedoch zunächst dachten, dass das Haus wegen einer Darstellung der Gottesmutter auf den Wolken an der Wand des Hauses so genannt wird. Tatsächlich jedoch nahm die Tochter des Hausherrn in der Rolle der Gottesmutter an dem Schauspiel teil, und die Bewohner des Dorfes waren schon so mit ihren Rollen verwachsen, dass sie sich auch im täglichen Umgang nicht beim Namen nannten, sondern nach den Rollen, auf die sie sich im Laufe von 10 Jahren von einem Spieljahr zum nächsten vorbereiten.

Die Gottesmutter antwortete auf unsere Frage nach einer Unterkunft, dass in ihrem Haus alles besetzt sei, aber auf dem Dachboden ein Doppelbett stände, auf dem auch drei Platz finden können. Uns schien es etwas seltsam, die Nacht so zu verbringen, und deshalb fragten wir, ob es im Hause nicht wenigstens ein Sofa oder eine Bank für den Dritten gäbe. Es fand sich ein Sofa, doch es war zu kurz. Man konnte nichts ändern. V. P. Titow erklärte sich bereit, die Nacht auf diesem Sofa zu verbringen und mir mit meinem Sohn das Doppelbett auf dem Boden zu überlassen. Nachdem wir die Unterkunft sichergestellt hatten, gingen wir auf die Suche nach einem Abendessen und zur Besichtigung des uns interessierenden Städtchens. Um acht Uhr abends hörten wir Kanonenschüsse und Glockengeläut, womit der Vorabend der morgigen Aufführung angekündigt wurde; in den Straßen hörte man die Musik einheimischer Künstler. Man muss anmerken, dass die Oberammergauer, die dieses Schauspiel für ihr ausschließliches Eigentum halten, außer ihren Dorfbewohnern keine anderen Schauspieler zulassen. Nachdem wir all das angeschaut hatten, erinnerten wir uns daran, dass es Zeit war, schlafen zu gehen – um so mehr, als wir am Morgen früh aufstehen mussten, da die Vorstellung um acht begann. Doch wie groß war unsere Verwunderung, als wir das Zimmer öffneten, in dem Titow auf seinem Sofa schlafen sollte, und es voll von Leuten fanden, die auf dem Fußboden schliefen. Das waren einfache Bauern, die aus der Umgebung zu der Vorstellung gekommen waren und keinen anderen Platz zum Übernachten hatten, als die gastfreundliche Gottesmutter, die so viele Gäste unter ihr Dach ließ, wie hineinpassten. So musste Wladimir Petrowitsch über die Schlafenden klettern, um zu seinem Sofa zu gelangen. Mich aber führte die junge Hausfrau mit meinem Sohn auf den Dachboden zu dem Doppelbett und bat uns, hier die Schuhe auszuziehen, damit sie sie noch am Abend putzen könnte, da sie am folgenden Morgen früh in die Kirche gehen wollte, um vor ihrem Auftritt in der Rolle der Gottesmutter die Kommunion zu empfangen. Diese Pflicht erfüllen alle Hauptdarsteller, die die Rollen von Christus, den Aposteln und den Frauen aus dem Evangelium darstellen. Außerdem wird die Rolle Christi einem Mann untadeligen Verhaltens überlassen, der auch gut aussehen soll.

Am nächsten Morgen standen wir früh auf und eilten zu dem Schauplatz. Dort waren schon große Volksmengen versammelt, die den Beginn dieser heiligen Handlung ehrfürchtig erwarteten, denn in den Augen der katholischen Bauern war dies nicht eine einfache Aufführung der Geschehnisse des Evangeliums, sondern eine liturgische Handlung, so wie in unserer Kirche z.B. im Altertum die Darstellung der drei Jünglinge im Feuerofen oder der Einzug in Jerusalem mit dem Patriarchen auf dem Pferd vollzogen wurde. Das Oberammergauer Spiel nahm mit der Zeit den Charakter einer richtigen Theatervorstellung an, nimmt aber dennoch sowohl durch die Erhabenheit und Heiligkeit des Inhaltes als auch durch die Ehrfurcht und die künstlerische Reife der Aufführung die Seele gefangen und zieht die Aufmerksamkeit in solchem Maße an, dass man trotz der 8-stündigen Dauer mit nur einer einstündigen Pause weder vom langen Sitzen, noch von der gespannten Aufmerksamkeit auf die sich wechselnden Szenen müde wird. Diese Beobachtung verwunderte mich noch mehr, als ich 20 Jahre später im Jahr 1880 in Begleitung desselben ältesten Sohnes und schon meiner Enkel, seiner Söhne im Alter von 9 und 7 Jahren, diese Aufführung besuchte. Diese Burschen wurden nicht nur nicht müde, sondern folgten der Aufführung von Anfang bis Ende mit noch größerer Aufmerksamkeit als wir Erwachsene. Und in der Tat ergreift dieser ungewöhnliche Ablauf der heiligsten Ereignisse der Weltgeschichte in lebendigen Personen unwillkürlich Geist und Herz. Ich fürchtete mich nur beim ersten wie beim zweiten Mal bei dieser Aufführung davor, dass bei einem so heiligen Gegenstand eine Profanierung geschehen könnte. Doch wenn man die Vorbereitung der Schauspieler selbst, die vor der Aufführung die Kommunion empfangen, und das ehrfürchtige anwesende Volk sieht, das zu dieser Darstellung wie zu einem Heiligtum herbeikommt, ergreift einen unwillkürlich die gleiche Stimmung, und man denkt nur daran, dass diese Aufführung die einzige ihrer Art ist, die mit ihrem lokalen Hintergrund nur an diesem Ort und dabei nicht häufiger als alle 10 Jahre stattfinden kann.

Nachdem wir den ersten Teil angeschaut hatten, gingen wir mit den anderen um 12 Uhr ins Freie, um unsere Kräfte für die folgenden vier Stunden zu stärken. Man musste an das Mittagessen denken, doch wir konnten eben nur daran denken, denn diese gute Absicht auszuführen war unmöglich. Die diesen Platz umgebenden Zelte mit Verpflegung und Bier waren von den aus dem Theater herausgeströmten Zuschauern buchstäblich umlagert, und jedes Stück Brot, jeder Krug Bier konnte nur im Kampf erobert werden. In das Dorf zurückzukehren, war unmöglich, da zum Essen und Ausruhen lediglich eine Stunde Zeit war, das Dorf aber nicht nahe war, und so waren wir wieder gezwungen, uns um Hilfe an die Zöllner und Pharisäer zu wenden, die hier in ihren Theaterkostümen spazieren gingen. Mit der den Bayern eigenen Gutmütigkeit beeilte sich jeder von ihnen, uns etwas zu bringen, der eine brachte Brot, der andere Würstchen, der dritte einen riesigen Krug Bier. Und nachdem wir uns mit dieser bescheidenen Nahrung gestärkt hatten, eilten wir zurück, um unsere Plätze einzunehmen, umso mehr als schon der zweite Kanonenschuss zu hören war, und nach dem dritten die Vorstellung begann. Im zweiten Teil war der Höhepunkt die Kreuzigung. Diese Szene wurde makellos gespielt. Es war sehr vernünftig, dass der Akt des Annagelns an das Kreuz hinter der Szene durchgeführt wurde. Man hörte nur das Einschlagen von Nägeln, und als sich der Vorhang hob, eröffnete sich den Zuschauern das Bild von drei Kreuzen mit den an ihnen hängenden Körpern, das vollständig nach dem Vorbild des berühmten Gemäldes von Rubens komponiert war. Doch es wäre gut gewesen, wenn dies wirklich nur ein Bild gewesen wäre, wenn auch ein lebendiges. Als aber aus dem Mund des Gekreuzigten die berühmten sieben Wörter aus dem Evangelium erklangen, empörte sich das religiöse Gefühl unwillkürlich; man fühlte eine Profanierung der heiligen Handlung, besonders deshalb, weil diese Worte im lokalen Dialekt gesprochen wurden, den das einfache Volk spricht.

Nachdem wir all das bis zum Ende durchgehalten hatten, verließen wir diese Vorstellung um 5 Uhr, voll verschiedener Eindrücke, über die wir uns nicht Rechenschaft ablegen konnten. Was uns jetzt beschäftigte, war, dass wir nicht noch eine Nacht im Hause unserer Gottesmutter bleiben wollten, sondern nach Möglichkeit eine andere, bequemere Unterkunft suchen wollten. Zum Glück bot uns gleich beim Theater ein Kutscher aus Partenkirchen an, uns in diesen Ort zu fahren, der durch seine schöne Lage berühmt ist und deswegen von vielen Touristen besucht wird. Wir freuten uns über diese Gelegenheit, ergriffen sofort unser Gepäck und fuhren los.