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Passionsspiele in Oberammergau

Nachdem wir die Kaiserin verabschiedet hatten, die aus Wiesbaden unmittelbar nach Russland reiste, da sie nach ihren Worten nicht in fremden Gefilden sterben wollte, beschloss ich, mit unserem Gesandten V. P. Titow eine Reise nach Oberbayern zu machen, wo alle 10 Jahre eine Aufführung der Passionsspiele stattfindet, die Massen von frommen und noch mehr neugierigen Menschen von allen Enden der Welt anziehen. Ich nahm meinen ältesten Sohn mit, und wir machten uns Anfang August auf die Reise. Mit der Eisenbahn nach München gekommen, erkundigten wir uns, wie man den berühmten Ort in den Bayerischen Alpen erreicht. Nachdem man uns den Weg beschrieben hatte, warnte man uns in München, dass wir ohne vorherige Buchung einer Kutsche und Unterkunft riskieren, unser Ziel wegen der Menschenmenge, die zu diesem Schauspiel eilt, nicht zu erreichen. Wir beschlossen jedoch auf gut Glück zu fahren. Wir setzten mit dem Dampfer über den Starnberger See über, der in der Folge wegen des unglücklichen Todes des Bayerischen Königs so berühmt werden sollte, der sich in dessen Wellen stürzte und seinen Leibarzt mit sich in die Tiefe riß. Am Landeplatz sahen wir eine zahllose Ansammlung von Fuhrwerken aller Art, von Postkutschen und Omnibussen angefangen bis zu einfachen Fuhrwerken mit Sitzen aus Brettern. Als wir ans Ufer kamen, stellten wir fest, dass die besseren Fahrzeuge alle schon von den mit uns reisenden Passagieren im voraus aus München bestellt waren, und wir mussten uns ein Plätzchen in einem der Omnibusse oder Pferdefuhrwerke suchen, auf die sich alle sofort im Handgemenge stürzten. Es gelang uns jedoch, irgendwie drei Plätze in einer dieser Kutschen zu finden, in der 12 Personen saßen, größtenteils einfache Menschen. Es waren ungefähr 6 Stunden Reise bis nach Oberammergau, und einen solchen Weg in dem ungemütlichen Fuhrwerk durchzuhalten, wäre unmöglich gewesen. Zum Glück ging der Weg größtenteils bergauf und deshalb im Schritt, so dass wir häufig unseren Omnibus verlassen und zu Fuß gehen konnten, wobei wir die Alpenluft und die malerische Umgebung genossen. Diese Reise, wie auch die Aufführung in Oberammergau beschrieb und druckte ich in der Zeitschrift “Strannik” 1861 unter dem Titel: “Die Passionsspiele in Oberbayern”, weshalb ich hier das Beschriebene nicht wiederholen, sondern nur einige Episoden aus dieser interessanten Reise erwähnen werde. Als wir an dem Ziel unserer Reise ankamen, befanden wir uns vor den Schwierigkeiten, die man uns in München vorausgesagt hatte. Wir kamen am Samstagabend dorthin, am Vorabend der Aufführung, welche im Laufe des Sommers jedes zehnten Jahres jeweils sonntags gegeben wird, und unsere erste Sorge war es, für uns Karten für die morgige Vorstellung zu erhalten. Deshalb gingen wir zum Theater, welches außerhalb des Dorfes auf dem Feld gelegen ist. Hier erstaunten uns die Figuren kostümierter Personen, die auf dem Feld umhergingen und bei den ringsherum aufgebauten Zelten aus Bierkrügen tranken. Es zeigte sich, dass das die morgigen Schauspieler waren, alle aus Oberammergau, Pharisäer, römische Soldaten, Volk in der Kleidung der Zeit, und als wir an die Unterkunft dachten, welche schwierig zu erhalten war, da alles längst belegt war und uns deshalb an einen Einwohner wandten, sagte dieser, nachdem er etwas nachgedacht hatte auf eine der kostümierten Personen zeigend: “Fragen Sie diesen Pharisäer, vielleicht findet sich in seinem Haus noch Platz." Doch auf unsere Frage antwortete der Pharisäer, dass bei ihm schon alles überfüllt sei. 

“Aber versuchen Sie es dort bei der Gottesmutter, dort finden Sie vielleicht noch eine Unterkunft”.

Wie seltsam es uns auch anmuten mochte, solche Adressen zur Suche einer Unterkunft zu hören, gingen wir doch zu dem uns gewiesenen Haus der Gottesmutter, wobei wir jedoch zunächst dachten, dass das Haus wegen einer Darstellung der Gottesmutter auf den Wolken an der Wand des Hauses so genannt wird. Tatsächlich jedoch nahm die Tochter des Hausherrn in der Rolle der Gottesmutter an dem Schauspiel teil, und die Bewohner des Dorfes waren schon so mit ihren Rollen verwachsen, dass sie sich auch im täglichen Umgang nicht beim Namen nannten, sondern nach den Rollen, auf die sie sich im Laufe von 10 Jahren von einem Spieljahr zum nächsten vorbereiten.

Die Gottesmutter antwortete auf unsere Frage nach einer Unterkunft, dass in ihrem Haus alles besetzt sei, aber auf dem Dachboden ein Doppelbett stände, auf dem auch drei Platz finden können. Uns schien es etwas seltsam, die Nacht so zu verbringen, und deshalb fragten wir, ob es im Hause nicht wenigstens ein Sofa oder eine Bank für den Dritten gäbe. Es fand sich ein Sofa, doch es war zu kurz. Man konnte nichts ändern. V. P. Titow erklärte sich bereit, die Nacht auf diesem Sofa zu verbringen und mir mit meinem Sohn das Doppelbett auf dem Boden zu überlassen. Nachdem wir die Unterkunft sichergestellt hatten, gingen wir auf die Suche nach einem Abendessen und zur Besichtigung des uns interessierenden Städtchens. Um acht Uhr abends hörten wir Kanonenschüsse und Glockengeläut, womit der Vorabend der morgigen Aufführung angekündigt wurde; in den Straßen hörte man die Musik einheimischer Künstler. Man muss anmerken, dass die Oberammergauer, die dieses Schauspiel für ihr ausschließliches Eigentum halten, außer ihren Dorfbewohnern keine anderen Schauspieler zulassen. Nachdem wir all das angeschaut hatten, erinnerten wir uns daran, dass es Zeit war, schlafen zu gehen – um so mehr, als wir am Morgen früh aufstehen mussten, da die Vorstellung um acht begann. Doch wie groß war unsere Verwunderung, als wir das Zimmer öffneten, in dem Titow auf seinem Sofa schlafen sollte, und es voll von Leuten fanden, die auf dem Fußboden schliefen. Das waren einfache Bauern, die aus der Umgebung zu der Vorstellung gekommen waren und keinen anderen Platz zum Übernachten hatten, als die gastfreundliche Gottesmutter, die so viele Gäste unter ihr Dach ließ, wie hineinpassten. So musste Wladimir Petrowitsch über die Schlafenden klettern, um zu seinem Sofa zu gelangen. Mich aber führte die junge Hausfrau mit meinem Sohn auf den Dachboden zu dem Doppelbett und bat uns, hier die Schuhe auszuziehen, damit sie sie noch am Abend putzen könnte, da sie am folgenden Morgen früh in die Kirche gehen wollte, um vor ihrem Auftritt in der Rolle der Gottesmutter die Kommunion zu empfangen. Diese Pflicht erfüllen alle Hauptdarsteller, die die Rollen von Christus, den Aposteln und den Frauen aus dem Evangelium darstellen. Außerdem wird die Rolle Christi einem Mann untadeligen Verhaltens überlassen, der auch gut aussehen soll.

Am nächsten Morgen standen wir früh auf und eilten zu dem Schauplatz. Dort waren schon große Volksmengen versammelt, die den Beginn dieser heiligen Handlung ehrfürchtig erwarteten, denn in den Augen der katholischen Bauern war dies nicht eine einfache Aufführung der Geschehnisse des Evangeliums, sondern eine liturgische Handlung, so wie in unserer Kirche z.B. im Altertum die Darstellung der drei Jünglinge im Feuerofen oder der Einzug in Jerusalem mit dem Patriarchen auf dem Pferd vollzogen wurde. Das Oberammergauer Spiel nahm mit der Zeit den Charakter einer richtigen Theatervorstellung an, nimmt aber dennoch sowohl durch die Erhabenheit und Heiligkeit des Inhaltes als auch durch die Ehrfurcht und die künstlerische Reife der Aufführung die Seele gefangen und zieht die Aufmerksamkeit in solchem Maße an, dass man trotz der 8-stündigen Dauer mit nur einer einstündigen Pause weder vom langen Sitzen, noch von der gespannten Aufmerksamkeit auf die sich wechselnden Szenen müde wird. Diese Beobachtung verwunderte mich noch mehr, als ich 20 Jahre später im Jahr 1880 in Begleitung desselben ältesten Sohnes und schon meiner Enkel, seiner Söhne im Alter von 9 und 7 Jahren, diese Aufführung besuchte. Diese Burschen wurden nicht nur nicht müde, sondern folgten der Aufführung von Anfang bis Ende mit noch größerer Aufmerksamkeit als wir Erwachsene. Und in der Tat ergreift dieser ungewöhnliche Ablauf der heiligsten Ereignisse der Weltgeschichte in lebendigen Personen unwillkürlich Geist und Herz. Ich fürchtete mich nur beim ersten wie beim zweiten Mal bei dieser Aufführung davor, dass bei einem so heiligen Gegenstand eine Profanierung geschehen könnte. Doch wenn man die Vorbereitung der Schauspieler selbst, die vor der Aufführung die Kommunion empfangen, und das ehrfürchtige anwesende Volk sieht, das zu dieser Darstellung wie zu einem Heiligtum herbeikommt, ergreift einen unwillkürlich die gleiche Stimmung, und man denkt nur daran, dass diese Aufführung die einzige ihrer Art ist, die mit ihrem lokalen Hintergrund nur an diesem Ort und dabei nicht häufiger als alle 10 Jahre stattfinden kann.

Nachdem wir den ersten Teil angeschaut hatten, gingen wir mit den anderen um 12 Uhr ins Freie, um unsere Kräfte für die folgenden vier Stunden zu stärken. Man musste an das Mittagessen denken, doch wir konnten eben nur daran denken, denn diese gute Absicht auszuführen war unmöglich. Die diesen Platz umgebenden Zelte mit Verpflegung und Bier waren von den aus dem Theater herausgeströmten Zuschauern buchstäblich umlagert, und jedes Stück Brot, jeder Krug Bier konnte nur im Kampf erobert werden. In das Dorf zurückzukehren, war unmöglich, da zum Essen und Ausruhen lediglich eine Stunde Zeit war, das Dorf aber nicht nahe war, und so waren wir wieder gezwungen, uns um Hilfe an die Zöllner und Pharisäer zu wenden, die hier in ihren Theaterkostümen spazieren gingen. Mit der den Bayern eigenen Gutmütigkeit beeilte sich jeder von ihnen, uns etwas zu bringen, der eine brachte Brot, der andere Würstchen, der dritte einen riesigen Krug Bier. Und nachdem wir uns mit dieser bescheidenen Nahrung gestärkt hatten, eilten wir zurück, um unsere Plätze einzunehmen, umso mehr als schon der zweite Kanonenschuss zu hören war, und nach dem dritten die Vorstellung begann. Im zweiten Teil war der Höhepunkt die Kreuzigung. Diese Szene wurde makellos gespielt. Es war sehr vernünftig, dass der Akt des Annagelns an das Kreuz hinter der Szene durchgeführt wurde. Man hörte nur das Einschlagen von Nägeln, und als sich der Vorhang hob, eröffnete sich den Zuschauern das Bild von drei Kreuzen mit den an ihnen hängenden Körpern, das vollständig nach dem Vorbild des berühmten Gemäldes von Rubens komponiert war. Doch es wäre gut gewesen, wenn dies wirklich nur ein Bild gewesen wäre, wenn auch ein lebendiges. Als aber aus dem Mund des Gekreuzigten die berühmten sieben Wörter aus dem Evangelium erklangen, empörte sich das religiöse Gefühl unwillkürlich; man fühlte eine Profanierung der heiligen Handlung, besonders deshalb, weil diese Worte im lokalen Dialekt gesprochen wurden, den das einfache Volk spricht.

Nachdem wir all das bis zum Ende durchgehalten hatten, verließen wir diese Vorstellung um 5 Uhr, voll verschiedener Eindrücke, über die wir uns nicht Rechenschaft ablegen konnten. Was uns jetzt beschäftigte, war, dass wir nicht noch eine Nacht im Hause unserer Gottesmutter bleiben wollten, sondern nach Möglichkeit eine andere, bequemere Unterkunft suchen wollten. Zum Glück bot uns gleich beim Theater ein Kutscher aus Partenkirchen an, uns in diesen Ort zu fahren, der durch seine schöne Lage berühmt ist und deswegen von vielen Touristen besucht wird. Wir freuten uns über diese Gelegenheit, ergriffen sofort unser Gepäck und fuhren los.